135 Jahre nach der "Kongo-Konferenz": "Die Kolonialzeit ist noch nicht vorbei"

AZ: Herr Koukoubou, Ihre Heimat Benin war bis 1960 eine französische Kolonie. Welche Erinnerungen haben die Menschen dort noch an diese Zeit?
Aymar Koukoubou: Es sind schlimme Erinnerungen, über die man so wenig wie möglich reden möchte. Aber egal, wo ich in Benin unterwegs bin, erzählen mir ältere Menschen zum Beispiel, dass sie früher Franzosen auf den Schultern tragen mussten. Was auch noch präsent ist: Verschiedene Volksgruppen haben kooperiert – über sie wird heute noch gesagt: "Die haben uns verraten, die haben uns verkauft." Das führt zwar nicht zu brutalen Auseinandersetzungen, aber die Verletzung ist noch da.

Die Kolonialzeit ist bei Zeitzeugen noch im Gedächtnis, faktisch gesehen ist sie seit Jahrzehnten passé: Portugal hat die letzte Kolonie 1974 aufgegeben, Deutschland hat seine schon nach dem Ersten Weltkrieg verloren.
Offiziell ist die Kolonialzeit zwar vorbei, aber in der Realität nicht. Bestimmte Strukturen wirken immer noch.
Welche zum Beispiel?
Oh, das sind viele. Ein einfaches Beispiel: Afrika ist heute in Zeiten der Globalisierung immer noch Lieferant von Rohstoffen, wie schon damals in der Zeit der Kolonien. Gabun etwa muss seine Rohstoffe immer noch exklusiv an Frankreich liefern. Auch die Bio-Piraterie ist ein Beispiel. Bestimmte Pflanzen oder Tiere werden legal patentiert und die lokale Bevölkerung darf sie nicht mehr nutzen.
Land war in Afrika so teuer, dass es niemand besitzen konnte
Auch auf der Landkarte sieht man die Kolonialzeit noch. Der Kontinent wurde Ende 1884 bis Februar 1885 auf der "Kongo-Konferenz" in Berlin unter den europäischen Mächten wie ein Kuchen aufgeteilt. Was hat das mit den Staaten gemacht?
Wenn man das heutige Afrika und seine Grenzen anschaut, sieht man das Ergebnis dieser Konferenz. Afrika sah früher anders aus und hat anders funktioniert. Viele Volksgruppen lebten in Regionen, die durch die Konferenz getrennt und auf die heutigen Staaten aufgeteilt wurden. Die Yoruba zum Beispiel leben jetzt in Gebieten von Nigeria bis Ghana. Die Folge: Sogar Verwandte wurden durch die Aufteilung zu Ausländern. Diese Trennung der Volksgruppen war von den Kolonialmächten sogar gewollt, um die eigene Macht zu stärken.
Sie haben gesagt, Afrika hatte zuvor anders funktioniert. Wie?
Im vorkolonialen Afrika war Land für die Menschen so wertvoll, dass es niemand privatrechtlich besitzen konnte. Es wurde gemeinschaftlich genutzt, gehörte niemandem allein. Dass man Land verkauft, war für die Einheimischen, als würde man die Familie verkaufen. Das Konstrukt von Privatbesitz durch die Kolonialmächte hat dazu geführt, dass Zäune errichtet wurden und die lokale Solidarität zerstört wurde. Das wirkt bis heute nach. Immer mehr Land wird verkauft und dadurch knapper. Im schlimmsten Fall müssen die Menschen wegziehen, wenn sie keine Flächen mehr für Ackerbau haben.
Ist damit die Kolonialzeit auch eine Ursache zur Flucht?
Das ist ganz klar der Fall. Der Kolonialismus und die nachwirkenden Strukturen führen zu Fluchtursachen.

Deutsche Kolonialismusgeschichte wird unterschätzt
Deutschland hatte in Afrika vier Kolonien: das heutige Namibia, Tansania, Togo und Kamerun. Denken Sie, dass wir uns mit dieser Vergangenheit schon ausreichend auseinandergesetzt haben?
Nein, das Gefühl habe ich nicht. Ich habe viele deutsche Freunde und an der Uni viel mit Studenten zu tun. Viele wissen wenig über die deutsche Kolonialgeschichte.
Was sollten wir denn wissen?
Viele sagen, Deutschland hatte ja nur kurz Kolonien, aber das waren trotzdem 35 Jahre. Im Vergleich zu Frankreich oder anderen mag das kurz sein, dennoch war Deutschland die viertgrößte Kolonialmacht – von der Fläche her betrachtet. Es gab zwei Völkermorde, in Tansania und Namibia, in Letzterem gegen die Herero und Nama. Viele wissen zudem nicht, dass mithilfe von Menschen-Experimenten durch deutsche Firmen medizinische Präparate hergestellt wurden.
Das ist längst nicht alles. Es gab etwa auch entwürdigende Menschen-Schauen. Macht Sie das wütend?
Ich finde es unfassbar, was Menschen machen können. Ich möchte damit nicht sagen, dass in Europa böse Menschen sind und in Afrika die guten. Es gab auch afrikanische Akteure, die mitgemacht haben. Aber ich glaube, dass wir uns allgemein fragen sollten, was uns Menschen ausmacht und wie wir gemeinsam leben wollen.
Folgen des Kolonialismus: "Schlimme Sachen verjähren nicht"
Wie kann eine Versöhnung aussehen?
Es geht um Aufklärung und Anerkennung, nicht um Reparationen. Erst wenn die Vergangenheit anerkannt wird, kann Versöhnung und eine positive Zukunft entstehen und damit eine bessere Beziehung zwischen Afrika und Europa.
Welche Lehren sind zu ziehen?
Dass schlimme Sachen der Vergangenheit nicht verjähren. Wir tragen Geschichte in uns. Was wir aber morgen machen, das können wir selbst entscheiden. Wir sollten nach vorne schauen: Es kann besser werden, für uns alle.
Was halten Sie von Entwicklungshilfen?
Die Idee hinter Entwicklungsprogrammen ist gut, aber letztendlich verstärken sie die Kolonialität. In Afrika gibt es dadurch viele Regierungen, die von den Hilfsgeldern abhängig sind. Es sollte vielmehr darum gehen, eigenständiger zu werden – mit Europa als Partner. Wir wollen uns jetzt nicht isolieren und uns von Europa und der Welt abtrennen. Wir wollen auf Augenhöhe sein, fair und transparent. Natürlich würde es erstmal für Probleme sorgen, wenn die Hilfsgelder wegfallen. Deswegen müsste man progressiv und zum Beispiel mit Fristen vorgehen.
Schulbücher liefern zu wenig Aufklärung über Kolonialismus
Wie könnte eine künftige Hilfe aussehen?
Deutschland könnte zum Beispiel helfen, das Steuersystem auszubauen, damit afrikanische Bürger selber mehr Steuern zahlen und ihre Projekte finanzieren können.
Muss die Kolonialzeit auch noch präsenter in der schulischen Bildung werden?
Ja, das müsste viel mehr präsent sein. Und vor allem auch realistisch dargestellt werden. Es heißt: Der Gewinner ist der, der die Geschichte schreibt. Es sollte aber aus beiden Perspektiven betrachtet werden. Dann müsste auch drin stehen, dass noch Tausende Köpfe nicht nach Afrika zurückgebracht worden sind und Familien sich nicht würdevoll von den Toten verabschieden und sie beerdigen konnten.
Was steht eigentlich in Benin in den Schulbüchern?
Wir lernen viel über die französische Geschichte, über französische Akteure, die viel für die Befreiung von Sklaven gemacht haben. Es wird positiv dargestellt. Wir lernen wenig über unsere eigene Geschichte und soziale Realität.
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