Interview

"Zwischen Selbstzweifel und Grandiosität": Münchner Psychotherapeutin erklärt weiblichen Narzissmus

Die Münchner Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki spricht im AZ-Interview über "weiblichen Narzissmus" – und darüber, wie man ihn wieder loswird.
von  Rosemarie Vielreicher
Die Münchner Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki, geboren 1952, ist Expertin für (weiblichen) Narzissmus und hat schon mehrere Bücher dazu veröffentlicht.
Die Münchner Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki, geboren 1952, ist Expertin für (weiblichen) Narzissmus und hat schon mehrere Bücher dazu veröffentlicht. © Maik Kern

Die Münchner Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki hat ein Buch mit dem Titel "Ist es noch Selbstliebe oder schon Narzissmus? Den weiblichen Narzissmus verstehen und überwinden" geschrieben. Im AZ-Interview spricht sie über die Entstehung narzisstischer Züge, über Narzissmus in Beziehungen und wie man ihn wieder loswerden kann.

AZ: Frau Wardetzki, gefühlt hört man den Vorwurf, jemand sei doch ein Narzisst oder verhalte sich narzisstisch, immer öfter. Kommt Ihnen das auch so vor?
BÄRBEL WARDETZKI: Ja, der Begriff wird schon fast inflationär gebraucht. Er ist zu einem Mode-Wort geworden, mit dem jeder unangenehme Mensch bezeichnet wird. Aber das hat oftmals nichts damit zu tun, was wir als Psychotherapeuten darunter verstehen.

Gibt es denn mehr Narzissten als früher?
Die Fachleute sind sich hier uneins.

Münchner Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki: "Kindern werden keine Grenzen mehr gesetzt"

Was denken Sie?
Sagen wir mal so: Heutzutage können wir unsere narzisstischen Seiten wirklich wunderbar ausleben. Ich kann meine Spaghetti fotografieren, sie ins Netz stellen und die ganze Welt sieht, welche Pasta ich esse. Das gab es früher nicht. Dadurch können narzisstische Anteile gestärkt werden. Insofern könnte man denken, es werden mehr. Es ist aber auch eine Frage der Erziehung: Vielen Kindern werden keine Grenzen mehr gesetzt, so etwas führt mitunter auch zu einer narzisstischen Entwicklung. Kinder brauchen Feinfühligkeit und Orientierung. Wenn sie diese nicht bekommen, können sie in eine Überwertigkeit abrutschen und denken, sie seien besser als alle anderen.

Trägt jeder narzisstische Züge in sich?
Auch das ist nicht eindeutig klar. Ich glaube schon, dass wir alle solche Anteile haben, die aber zum Teil sehr positiv sind. Das bedeutet ja auch, dass man sich anstrengt, eine besonders gute Leistung bringt, man gemocht werden will. Das ist nicht narzisstisch im Sinne von unangenehm oder gestört, sondern man nennt dies auch positiven Narzissmus. Daneben gibt es die narzisstische Ausprägung, die aus seelischer Not geboren ist, gemäß dem Motto: "Früher konnte ich mich auf niemanden verlassen, also verlasse ich mich lieber auf mich selber." Eigentlich wollen diese Menschen Liebe, diese bekommen sie jedoch nicht, also gehen sie den Weg der Bewunderung und überhöhen sich.

"Die narzisstische Fassade soll die Minderwertigkeitsgefühle überdecken"

Sie beschreiben in Ihrem Buch "Ist es noch Selbstliebe oder schon Narzissmus?" speziell weiblichen Narzissmus, der sich schon deutlich vom geläufigen Verständnis von Narzissmus unterscheidet. Was hat es damit auf sich?
Betroffene zeigen sich zwar nach außen selbstbewusst, fühlen sich aber innerlich unglaublich unsicher. Sie schwanken zwischen Selbstzweifel und Grandiosität. In diesem Spannungsbogen findet ihr Erleben statt - und das kann in Sekunden schwanken. Die narzisstische Fassade soll die Minderwertigkeitsgefühle überdecken. Nur durch Attraktivität, Perfektionismus und Anpassung an fremde Erwartungen glauben sie, gemocht und geliebt zu werden. Aus ihrer Sicht müssen sie etwas dafür tun, ein wertvoller Mensch zu sein. Nach außen wollen sie perfekt wirken. Es sind oft sehr attraktive, schlanke Frauen, die sehr viel Wert auf ihr Äußeres legen. Das allein ist noch kein Problem.

Wann wird es bei diesem Beispiel problematisch?
Jemand ohne weiblichen Narzissmus hält seinen Wert bei, auch wenn er dicker ist. Mit narzisstischer Struktur wird man dagegen in dem Fall in große Not geraten. Das ist sehr anstrengend für die Betroffenen und stellt auch in Beziehungen ein Problem dar.

Wie wirkt es sich auf die Person noch aus?
Sie denken: So wie sie sind, sind sie nicht in Ordnung. Deswegen müssen sie sich verändern. Sie versuchen immer, etwas zu verdecken. Ihr Inneres, ihre Bedürfnisse, ihre Gefühle. Dadurch kommen sie jedoch von sich selbst immer weiter weg und gucken sich mit den Augen des anderen an. Der andere entscheidet also darüber, wie wertvoll man sich fühlt.

Haben diese Ausprägung von Narzissmus nur Frauen? Wenn man der Begrifflichkeit folgt, könnte man das annehmen.
Ich würde es heute nicht mehr so nennen wie damals 1991, sondern verdeckten Narzissmus, weil er gar nicht als solcher auffällt. Im Gegensatz dazu steht der offene Narzissmus, weil er so ist, wie wir uns ihn vorstellen. Männer können sowohl den verdeckten Narzissmus haben, als auch Frauen den offenen. Mehr Frauen haben aus meiner Erfahrung aber die verdeckte Form.

Woran liegt das?
Ich denke auch daran, weil sich Frauen durch die Jahrtausende währende Abwertung des Frauseins viel schneller in Frage stellen, als es Männer tun. Das merkt man zum Beispiel im Umgang mit Kritik. Kritisiert man einen Mann mit narzisstischer Struktur, wird er vermutlich antworten: "Ich glaube, du hast einen Knall. Ich habe doch alles richtig gemacht."

"Frauen stellen sich gleich in Frage, ohne zu prüfen, ob die Kritik angemessen ist"

Und eine Frau?
Sie dagegen würde wahrscheinlich sagen: "Oh Gott, natürlich habe ich einen Fehler gemacht, jetzt muss ich mich noch mehr anstrengen." Frauen stellen sich gleich in Frage, ohne zu prüfen, ob die Kritik angemessen ist. Ein offener Narzisst wird die Kritik sofort ablehnen. Diese Menschen lassen sich nicht korrigieren. Sie wollen auf keinen Fall zulassen, dass herauskommen könnte, sie seien gar nicht so toll.

Welche Verhaltensweisen sind noch typisch für weiblichen Narzissmus?
Ich hatte eine Klientin, die sich für eine Einladung schick gemacht hatte. Vor Ort sah sie, dass die anderen Gäste bei Weitem nicht so herausgeputzt waren wie sie. Sie war overdressed. Sofort hat sie sich in Frage gestellt und hat sich gefragt, warum habe ich das getan. Vor lauter Selbstzweifel hat sie das Fest verlassen. Wenn diese Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühle so überhandnehmen, geht das auf Kosten von Beziehungen.

Kommen wir zum sozialen Miteinander. Wie wirkt sich das auf Partnerschaften aus?
Sie haben eine große Angst vor Verlassenheit und Trennung. Jede Form von Distanz des Partners kann das hervorrufen. Das Grundgefühl von narzisstisch strukturierten Menschen ist, dass sie emotional verlassen waren. Wenn der Partner nun so ein Verhalten zeigt, sich abgrenzt oder Raum für sich einfordert, kann das massive Schwierigkeiten auslösen, wie Traurigkeit, Wut oder zum Beispiel, dass die Person noch mehr klammert.

"Narzissten haben etwas Anziehendes"

In Ihrem Buch beschreiben Sie aber auch, dass solche Personen gute Verführer sind.
Ja, Menschen mit narzisstischer Struktur haben etwas sehr Anziehendes. Sie können sehr gut verführen, sie schillern.

Was passiert, wenn verdeckter und offener Narzissmus in einer Beziehung aufeinandertreffen?
Die treffen sich sogar sehr gerne! Beide haben ein Bindungsproblem. Sie haben eine große Angst vor Nähe und zugleich eine wahnsinnige Sehnsucht danach. Diese Beziehungen sind zum Teil sehr problematisch - sie beginnen in der Regel wie mit einem Feuerwerk: Beide schweben auf Wolke Sieben, bezeichnen den anderen als Traumpartner, idealisieren sich. Doch sie verwechseln dieses Verliebtsein mit Liebe und Beziehung. Sie haben große Schwierigkeit, dieses anfängliche Feuerwerk in eine konstante Flamme zu verwandeln und sich dauerhaft aufeinander zu beziehen. Die Fassade bricht umso schneller, je näher die Beziehung wird. Dann können viele Vorwürfe, Entwertungen und Ablehnungen passieren. Die Frauen versuchen, alles richtig zu machen - es ist wie eine Spirale, die immer schlimmer wird.

Wenn man selber solche Verhaltenszüge an sich bemerkt, was kann man tun?
Sich liebevoll betrachten und sich nicht dafür kasteien. Es geht nicht darum, jemanden in eine Schublade zu stecken. Sondern um die Frage: Was hat die Person dazu gebracht, diese narzisstische Fassade aufzubauen? Man ist nicht so klein wie ein Zwerg und auch nicht so groß wie eine Prinzessin. Man kann sich hinterfragen: Was ist denn in mir echt, was ist aufgesetzt? Und man sollte auch den Mut aufbringen, echter zu werden. Ein praktisches Beispiel: sich im wahrsten Sinne des Wortes einmal nicht schminken und schauen, was passiert.

Nichts vermutlich.
Genau! Dann wird man hinterfragen: Schminke ich mich, weil es mir Freude macht oder um mich der Welt präsentieren zu können? Ohne Schminke wäre das undenkbar.

Kann man solche Züge auch wieder loswerden?
Aus einer narzisstischen Sackgasse kann man herauskommen, wenn man Unterstützung bekommt. Das können auch mal Freunde sein, aber wenn es um seelische Not geht, ist es gut, wenn man dafür jemanden hat, der mit einem Wege heraus erarbeitet. Ich finde: lieber früher eine Therapie als zu spät.

"Der Begriff hat im normalen Sprachgebrauch nichts zu suchen"

Niemand gibt aber vermutlich gern zu, narzisstische Tendenzen bei sich entdeckt zu haben.
Deswegen sage ich immer: Sagen Sie statt Narzissmus Spinat (lacht). Damit will ich verdeutlichen: Es ist nur ein Wort, ein Begriff, der aus der Psychotherapie kommt, der im normalen Sprachgebrauch aber gar nichts zu suchen hat.

Was machen Sie, wenn Sie selbst in Ihrem Umfeld auf einen Narzissten treffen?
Wenn es sich unangenehm anfühlt und mich derjenige nur für Applaus ausbeuten will, würde ich weggehen. Ansonsten würde ich mich mit der Person unterhalten, wäre aber vorsichtig.

Analysieren Sie unterbewusst immer alle Menschen, wenn Sie zum Beispiel auf einer Veranstaltung sind?
Viele Leute haben tatsächlich Angst und denken: Ein Psychotherapeut durchschaut sie sofort. Aber ich kann sagen: Den Arbeitskittel gebe ich an der Garderobe ab und gehe als Bärbel rein.


Bärbel Wardetzki: Ist es noch Selbstliebe oder schon Narzissmus? Den weiblichen Narzissmus verstehen und überwinden; Kösel Verlag; 18 Euro.

"Ist es noch Selbstliebe oder schon Narzissmus? Den weiblichen Narzissmus verstehen und überwinden" von Bärbel Wardetzki
"Ist es noch Selbstliebe oder schon Narzissmus? Den weiblichen Narzissmus verstehen und überwinden" von Bärbel Wardetzki © Kösel

Verhaltensempfehlungen von der Expertin Bärbel Wardetzki

Die Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki bietet in ihrem neuen Buch "Ist es noch Selbstliebe oder schon Narzissmus? Den weiblichen Narzissmus verstehen und überwinden" auch immer wieder Impulse, um sich selbst zu hinterfragen.

  1. Ein Beispiel aus dem Buch: "Falls du den Verdacht hast, du könntest unter einem weiblich-narzisstischen Persönlichkeitsstil leiden, dann könnte für dich interessant sein zu beobachten, inwieweit deine Attraktivität, der Sport, dein Gewicht etc. mehr der Bedürfnisbefriedigung oder mehr der Stabilisierung deines Selbstwertgefühls dienen."
  2. Im AZ-Gespräch schlägt Wardetzki zudem als Impuls vor: "Man kann sich seine Selbstentwertungen auch aufschreiben, um sie sich bewusst zu machen." Sprich: "In welchen Situationen und mit welchen Sätzen tue ich das? Dann kann ich mich in der konkreten Situation selbst darauf hinweisen und sagen: Stopp." Das wirke entlastend, weil es nicht mehr automatisch und unbewusst abläuft. "Nur, was ich bewusst wahrnehme, kann ich auch bewusst ändern."
  3. Bekommt man eine (kritische) Rückmeldung, braucht man sich nicht gleich als Mensch in Frage zu stellen, sondern kann sich deutlich machen, dass man trotzdem wertvoll ist - mit diesem Satz zu sich selbst: "Ich stehe hinter mir und egal, ob ich kritisiert oder gelobt werde, ich bin immer gleich viel wert."
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