Zweites Orlando in München? "Das sichere Gefühl ist brüchig"

Thomas Niederbühl (55) ist Stadtradt der Rosa Liste. Er engagiert sich für LGBT-Themen und gehört zu den Organisatoren des Christopher Street Day (CSD) in München. Die AZ hat mit ihm über den Amoklauf in einem Schwulenclub in Orlando gesprochen.
AZ: Herr Niederbühl, was hat der Anschlag von Orlando in Ihnen ausgelöst?
THOMAS NIEDERBÜHL: Ich war zuerst geschockt und fassungslos. Es kehrte das Gefühl zurück, das jeder schwule Mann und jede lesbische Frau kennt: Dass man jederzeit Opfer sein kann. Dass es einzelne Idioten gibt, die meinen, sie müssten ihren Hass auch umsetzen. Mir wurde bewusst: Unser sicheres Gefühl hier in München ist jederzeit brüchig. Die Sicherheit hat ihre Unschuld verloren.
Und danach?
Die zweite Reaktion war: Trotz. Solche Einzeltäter wie in Orlando wollen erreichen, dass Homosexuelle nicht sichtbar leben. Da müssen wir jetzt erst recht auf die Straße gehen und für uns einstehen, auch und gerade beim Christopher Street Day. Ich glaube, dass wir da viel Solidarität von der Allgemeinbevölkerung bekommen.
Wie reagiert Ihr Umfeld?
Zwischen Schockstarre, Ängsten und der Frage: Was bedeutet das für unseren CSD? Wir müssen sicher mit der Polizei und dem Kreisverwaltungsreferat nochmal über das Sicherheitskonzept sprechen. Klar ist, hundertprozentige Sicherheit kann es nicht geben. Ich versuche, die Stimmung zu verbreiten: Jetzt erst recht.
Wie beruhigen Sie?
Es gibt keine Anzeichen für eine aktuelle Bedrohung. Man darf sich nicht panisch machen lassen und auch nicht irrationalen Ängsten auf den Leim gehen. Gefahr besteht eigentlich immer; jetzt ist sie halt bewusster. Diese Ereignisse bestärken doch vielmehr den Kerngedanken des CSD: Dass man sich sichtbar macht, dass man auf die Straße geht, dass man diese Gleichstellung einfordert – weil wir ja wissen, dass die in vielen Ländern auf der Welt alles andere als selbstverständlich ist.
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In Deutschland, Bayern, auch München sind viele Menschen aus Ländern, die Sie ansprechen, hinzugekommen. Hat sich dadurch etwas geändert?
Nein, nach meinen direkten Erfahrungen nicht. Natürlich gibt es Migranten, die beim Gang durch die Müllerstraße schon ihre Probleme haben, weil sie diesen offenen Umgang mit Homosexualität aus ihrem Kulturkreis nicht kennen.
Was tun?
Da haben wir – wie überhaupt beim Thema Integration – eine große Aufgabe, nämlich die Selbstverständlichkeit verschiedener Lebensweisen durch Aufklärung zu vermitteln. Niemand hat eine Patentlösung. Es ist klar, das wird alles dauern. Aber das hat es in den vergangen Jahrzehnten bei uns ohnehin schon getan.
Sogar Flüchtlingshelfer sind mitunter verwundert über die Homophobie der Schützlinge.
Man kann ja erschreckt sein – aber was sind die Alternativen zur Aufklärung und dazu, Respekt zu verlangen? Ich sehe keine.
Geht es mit der Akzeptanz Homosexueller weiter stetig bergauf, oder hat die Entwicklung eine Delle erlitten?
Es gibt aus meiner Sicht eine Gleichzeitigkeit von Fortschritt und Mottenkiste. Die Ablehnenden, die Homophoben, haben sich eine ganze Zeit lang nicht getraut, das offen zu äußern. Die fühlen sich durch aktuelle rechtspopulistische Diskussionen nun bestärkt. Diese Ideologisierung macht es für Leute, die mit Homosexualität nicht umgehen können oder Hass spüren, wieder einfacher.
Was können die Münchner tun?
Wir halten am Montagabend eine Mahnwache vor dem US-Konsulat – in Gedenken an den Anschlag von Orlando. Und ich kann mit Blick auf den Christopher Street Day nur an alle AZ-Leser appellieren: Zeigt euch solidarisch und seid mit dabei!