Zwangsgeräumt: Mutter und Kinder im Obdachlosenheim

Weil sie die Miete nicht mehr zahlen konnte, verlor eine 35-jährige Münchnerin ihre Wohnung. Jetzt wohnt sie mit ihren Kindern in der Notunterkunft "Lollo" an der Thalkirchner Straße.
von  Irene Kleber / Lokales
Im November hat die Stadt an der Thalkirchner Straße 9 das „Lollo“ für obdachlose Familien eröffnet (Charlotte-von-Kirschbaum-Haus). Träger ist das Evangelische Hilfswerk. In den 94 Apartments (je 15 bis 20 qm) leben aktuell 240 Menschen, darunter 90 Kinder.
Im November hat die Stadt an der Thalkirchner Straße 9 das „Lollo“ für obdachlose Familien eröffnet (Charlotte-von-Kirschbaum-Haus). Träger ist das Evangelische Hilfswerk. In den 94 Apartments (je 15 bis 20 qm) leben aktuell 240 Menschen, darunter 90 Kinder. © iko

München - Das Zimmer ist winzig, aber es ist alles da, was notwendig ist: Ein Stockbett, eine Einbau-Kochnische, zwei Schreibtische, ein Schrank und ein kleines Bad mit Klo und Dusche. „Ein bisschen laut ist es“, sagt Marlene Lindinger (35; Name geändert), „aber jetzt geht es uns gut.“

Jetzt – das meint: seit acht Wochen. So lange wohnt die Münchnerin mit ihrer Tochter Lea (5) und ihrem Sohn Tobias (12) im neuen Obdachlosenheim „Lollo“ an der Thalkirchner Straße 9, das die Stadt finanziert. Tür an Tür mit 90 Familien aus sechs Ländern, die alle eins gemeinsam haben: Sie haben ihr Zuhause verloren.

Wie ist das nur passiert? Noch im Herbst hatte Marlene Lindinger ein ganz normales Leben. Mit ihren Kindern lebte sie in einer 110-Quadratmeter-Wohnung in Moosach. Ging halbtags als Büroangestellte arbeiten, während die Kinder in der Kita und in der Schule waren. 

Nur: Die Miete, knapp 1000 Euro warm, pünktlich an den Vermieter (die städtische Wohngesellschaft Gewofag) zu zahlen, ist der Familie schon seit Jahren schwer gefallen. Immer wieder kam sie in Zahlungsverzug. Als der Lebensgefährte die junge Mutter sitzen ließ (auch mit den Mietzahlungen) und ihre beste Freundin wenig später an Herzversagen starb, fiel Marlene Lindinger, wie sie sagt, „in ein Loch“. Sie erledigte nur noch das Allernötigste, öffnete keine Post mehr.

An einem Donnerstagmorgen im Dezember, gegen 8 Uhr, stand der Gerichtsvollzieher vor der Tür. Zwangsräumung. Die Münchner Familie stand – von einer Minute auf die nächste – auf der Straße.

AZ: Frau Lindinger, was war los an jenem Morgen?
MARLENE LINDINGER: Die Kinder waren schon unterwegs, ich saß mit einer Freundin und meiner Schwiegermutter daheim, da klingelte der Gerichtsvollzieher. Ich wusste, dass er kommen wollte und hatte die fehlende Miete in Bar da, geliehen von Freunden.

Aber?
Er wollte das Geld nicht mehr nehmen. Ich war selber schuld. Ich hatte den Kopf zu lange in den Sand gesteckt und alle Fristen verstreichen lassen.

Dann wurde sofort geräumt?
Ja. Auf einmal standen sechs Möbelpacker in meiner Wohnung und haben alles eingepackt. Ich war unter Schock, ich habe damit einfach nicht gerechnet. Bin stumm von einem Zimmer zum nächsten gegangen und wusste nicht, was tun?

Haben Sie noch irgendwas an sich genommen?
Meine wichtigsten Papiere, ein paar Kleider für die Kinder und die Kuscheltiere meiner Tochter. Dann bin ich raus auf die Straße gegangen.

Was haben Sie gefühlt?
Das war wie aufwachen und die Welt bricht zusammen. Alles verloren. Hätte ich nicht an meine Kinder gedacht, ich glaube, ich wäre vom nächsten Balkon gesprungen.

Wo sind Sie hin?
Zu einer Freundin, die angeboten hat, uns aufzunehmen. Das Schlimmste war, meine Kinder abzuholen und zu sagen: Wir können nicht mehr heim. Wir haben kein Zuhause mehr. Ich bin mit meinem Sohn vor der Schule ein Stück spazieren gegangen. Er hat nur geweint.

Wie lange haben Sie auf einen Platz im Lollo gewartet?
Nur zwei Tage, nachdem ich an der Obdachlosenstelle war. Das ging sehr schnell, die Leute dort waren sehr freundlich.

Wissen die Freunde Ihrer Kinder, wo Sie jetzt leben?
Nein, natürlich nicht. Wir kommunizieren das nicht. Meinen Kindern sage ich auch, das ist vorübergehend so.

Ihre Arbeit haben Sie ja noch. Wie geht es weiter?
Ich versuche, meine Finanzen in den Griff zu bekommen. Für die Zwangsräumung und die Möbellagerung muss ich noch 4800 Euro zahlen. Ich versuche, mit den Kindern ein geregeltes Leben zu führen, habe noch zwei Putzjobs angenommen und beim Wohnungsamt einen neuen Wohnungsantrag gestellt. Aber ob ich nach einer Räumungsklage noch eine Chance habe, das weiß ich nicht.     

 

ZWANGSRÄUMUNG

Mindestens 1329 Münchner Familien haben laut Sozialreferat 2014 ihr Zuhause verloren – wegen Mietschulden. Allein die städtische Wohnungsbaugesellschaft Gewofag (die in München 35.000 Wohnungen verwaltet) räumt pro Jahr 50 Haushalte, weil die Miete ausbleibt. Allerdings nicht  von heute auf morgen.

Oft zieht sich der Prozess über Jahre hin. Wer drei Monate am Stück seine Miete nicht zahlt, erhält in der Regel die fristlose Kündigung. Die lässt sich allerdings durch Gespräche mit dem Vermieter und durch Ratenvereinbarungen abwenden. Reagiert ein Mieter überhaupt nicht, kommt ein Räumungstitel vom Gericht. Der Gerichtsvollzieher kündigt den Termin der Zwangsräumung vier Wochen vorher an - durch ein amtliches Schreiben.

 

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