Zirkus Baldoni: Kamelkuss statt Urlaub

München - Artist Antonio war noch nie in Italien. Oder in Frankreich. Oder überhaupt außerhalb Deutschlands. Seit 25 Jahren führt die Route des Zirkus Baldoni rund um München, vom Volksfestplatz Olching nach Hadern, Ismaning und Bogenhausen. Bis zum Frühjahr 2020. Bis Corona kam. Und damit der große Stillstand.
Zum ersten Mal, seit er denken kann, besteht das Leben des 28-Jährigen nicht mehr aus wöchentlichen Umzügen. Eine Wiese an der Ecke Cosimastraße/Englschalkinger Straße ist sein Zuhause geworden - und das seiner Kamele, von denen er manche selbst mit der Flasche aufgezogen hat.

Ein Netzwerk von Helfern unterstützt den Zirkus
Glück im Unglück, glaubt er: "Wenn wir auf einer Bauernwiese gestrandet wären, würde es uns nicht mehr geben." Die Spendenbereitschaft der Münchner erhält - neben dem Mieterlass der Stadt und Kostensenkungen durch von der Versicherung abgemeldete Wagen - den Zirkus am Leben.
Seit März 2020 ist es den Zirkusleuten gelungen, ein Netzwerk aus spontanen und regelmäßigen Helfern aufzubauen: Eine Pizzakette lieferte gratis eine Runde Pizza für die Artisten, ein benachbartes Restaurant bringt ab und an Essen und stiftet Gemüsereste für die Tiere, von Privat- und Sachspenden der Anwohner konnten neue Reifen für einige Wagen besorgt oder Reparaturen an den Zelten finanziert werden.
Bauern aus dem Umland spenden Heu. Und nur so konnte Antonio Schmidt seine Tiere behalten.
"Hey, ich will jetzt nicht abgeschlabbert werden", weist er ein Kamel lachend zurecht und schiebt dessen riesigen gelbbraunen Kopf zur Seite - ohne Erfolg, der Kamelkuss glückt. Und er sitzt: Ein guter Teil Gesicht verschwindet kurzzeitig unter dem breiten Kamelzungenlappen.
"Ich kann nie in Urlaub fahren oder mal ein paar Wochen nicht arbeiten", sagt Antonio. "Die Tiere sind meine Familie. Das hier ist mein Leben." Der Zirkus Baldoni wurde von seinem Vater gegründet, der in Wirklichkeit "Kaiser" heißt - ein Familienbetrieb mit einem Fantasienamen.
Für die Frage "Was wäre, wenn?" ist keine Zeit
Er selbst ist im Zirkus geboren, von einer missglückten Trapeznummer hat er eine Narbe auf der Stirn, die sich bis hinter den Haaransatz zieht. Seine Freundin Geraldine ist gerade 18, ebenfalls Luftakrobatin, aus einem ostdeutschen Zirkus.
"Man lernt sich bei Zirkusfestivals kennen oder besucht sich gegenseitig", erzählen beide. So erweitert sich der Stab - und damit auch das Programm eines Familienzirkus.

Für die Frage "Was wäre, wenn?" haben Antonio und Geraldine keine Zeit: Sie trainiert jeden Tag bis zu vier Stunden, er lastet die Tiere aus. Neben den Kamelen gibt es noch Heidi, das Ziegenbaby, das am Cosimabad geboren wurde, Antonios schwarze Kaltblüter, mit denen er Westernnummern aufführt, Lamas und mehrere Esel - von denen auch einer im Lockdown zur Welt gekommen ist und vor Begeisterung laut zu brüllen beginnt, als sich ein Pfleger und damit die Chance auf frische Salatköpfe nähert. Die Tierklinik Aschheim, die auf Großtiere spezialisiert ist, kümmert sich um die rund 50 Zirkustiere.
Derzeit bekommt der Zirkus keine Genehmigung, auf anderen Wiesen Quartier aufzuschlagen. Gemeinden hätten möglicherweise Angst, plötzlich "einen Zirkus am Hals" zu haben. Das Schlimmste wäre aber ohnehin weiterzuziehen, wenn eine vierte Welle käme - und die Netze, die nun über fast zwei Jahre gewachsen sind, aufzugeben, glaubt Antonio: "Ich habe von Freunden gehört, dass sie aufhören müssen. Dann wird im Bekanntenkreis rumgefragt, wer Tiere für einige Jahre aufnehmen kann, bis es der Zirkus wieder selbst schafft."
"Wir brennen darauf, dass es weitergeht"
Ob sich etwas an ihrer Einstellung geändert habe, ob sie sich eine dauerhafte Sesshaftigkeit inzwischen vorstellen können? "Niemals", lautet die Antwort. "Wir brennen darauf, dass es weitergeht, die Scheinwerfer wieder auf uns gerichtet sind - und auf den Applaus."

Bis dahin wollen sie dem Viertel etwas zurückgeben, führen Anwohner durch die Tierzelte, unterhalten sich lange mit Kindern - denn gerade für Schausteller, die Unterhaltung zu ihrem Geschäft gemacht hätten, sei es schwer, Hilfen ohne Gegenleistung anzunehmen. Fußgänger stoppen am Zaun, manche strecken Hände in Richtung weicher Lama-Nasen, und wer streicheln möchte, darf das auch: "Es sind Zirkustiere, die kennen das nicht anders."
Besonders Kinder sollen Antonios Tiere sehen: "Schon bei Achtjährigen beobachten wir, dass sie weniger fasziniert als früher sind, sich vielleicht mehr für Computer und virtuelle Welten interessieren."
Der Zirkus dagegen lebt vom Geruch nach Stroh, vom Anblick eines zufrieden seinen Salat malmenden Esels, von feuchten Kamelküssen in der Mittagssonne und vom Zauber der direkten Begegnung - mitten in Bogenhausen.