"Wohnen für Hilfe": Eine ungewöhnliche WG mit einer Reporterlegende

München - Den Namen werde ich wohl nie im Kopf behalten. Eher das Erscheinungsbild: Ashken Yeghiazaryan ist 29 Jahre alt, sie hat dunkle Augen, eine sanfte Stimme, das pechschwarze Haar ist über den Ohren zu Löckchen gekringelt.
Ihr Deutsch ist makellos, erlernt an der Volkshochschule München, ihr Fleiß kaum zu übertreffen. Ashken hat drei Jobs und will bald ihr Informatik-Studium wieder aufnehmen. Außerdem besorgt sie seit Kurzem meinen Haushalt. Und das kam so.
Als alter, inzwischen allein lebender, mehrfach behinderter Mann mit verbliebenen Lebensansprüchen braucht man natürlich Hilfe im Haus. Personen, die über soziale Medien oder auch offizielle Stellen vermittelt werden, erweisen sich nach meiner Erfahrung nicht immer als zuverlässig, sprachgewandt und ausdauernd. Meine letzte Hilfe entschwand nach Brasilien. Außerdem sind die wenigsten mit dem Mindestlohn zufrieden.
Eine Mitwohnbörse, die Studierende vermittelt, ohne Komplikationen
Eines Tages bekam ich vom Alten- und Servicezentrum Altstadt-Lehel einen heißen Tipp und eine Telefonnummer: 139 284 192 0. Es meldete sich Brigitte Tauer, diplomierte Sozialpädagogin, vom Seniorentreff Neuhausen, unter dessen Fittichen eine Aktion "Wohnen für Hilfe" läuft.
Im November 1996 entstand die erste private "Mitwohnbörse" - gegründet worden war sie als "Alternative für Jung und Alt". Man wollte Studierende, Auszubildende und Teilnehmer in einem "sozialen Jahr" an ältere Menschen oder Familien, die Unterstützung im Alltag benötigen, vermitteln. Ohne Kosten und Komplikationen.
Die Leitidee: Nachbarschaftshilfe und Solidarität zwischen den Generationen sollen Studenten einen zuträglichen Wohnraum in der teuren Stadt bieten und vereinsamten Senioren die vermisste Geselligkeit sowie soziale Sicherheit. Kooperationen mit der Stadt, dem Studentenwerk und anderen Partnern lagen nahe.
Erst wurde mir eine Studentin aus Mexiko zugewiesen. Bueno, ich habe ein möbliertes Zimmer frei, das mexikanisch eingerichtet ist. Meine in Mexiko lebende Schwester benutzte es bisher bei Besuchen, aber längst kann sie ihr Seniorenheim nicht mehr verlassen. Leider musste die Señorita absagen, weil sie plötzlich einen Studienplatz in Württemberg bekommen hatte. Umgehend avisierte mir Brigitte Tauer, die zuvor meine Wohnung besichtigt hatte, eine "Neue": Ashken, Tochter eines Physikers und Ingenieurs in Armenien.
Unwillkürlich musste ich an meine Reise vom Frühjahr 1979 denken. Damals, in der Sowjetzeit, lernte ich in der armenischen Hauptstadt Eriwan den pensionierten Deutschlehrer Suren Chanamirian kennen. Er hatte eine bildhübsche Tochter, deren größter Wunsch eine westliche Jeans war. In einem nur für Ausländer zugelassenen Devisenladen konnte ich ihr eine kaufen. Der Händler schaute misstrauisch.
Ashken und ich wurden uns schnell handelseinig, obwohl das Zimmer nur zehn Quadratmeter klein ist und kaum alle Kleider der jungen Frau fasste. Ein Kammerl halt, wie es vor gut hundert Jahren in die hochherrschaftlichen Mietskasernen am grünen Isarufer extra fürs Hausmadl, die sogenannte Perle, vorgesehen war (unser Altbau hat sogar noch einen Dienstboteneingang). Die schriftliche Vereinbarung von "Hilfe für Wohnen" enthält indes eine klare, praktische Bestimmung: Man zahlt dafür - abgesehen von einer kleinen Einmalgebühr - keine Untermiete, sondern hilft im Haushalt: eine Stunde pro Quadratmeter.
In meinem Fall wären das also zehn Stunden für verschiedene nützliche Tätigkeiten: aufräumen, Geschirr und Wäsche waschen, bügeln, gelegentlich auch einkaufen und kochen. Und natürlich kleines wie großes Saubermachen.
Noch mitten in der Nacht lässt sie die Spülmaschine laufen
Das funktioniert. Ashken macht sich immer schnell und geschickt an die Arbeit, keine Tasse bleibt länger ungewaschen, noch mitten in der Nacht, nach anstrengendem Nebenjob, lässt sie Spül- oder Waschmaschine laufen. Das erinnert mich ein bisschen an die Heinzelmännchen oder an den lustigen Sketch von Gerhard Polt. Der hat seine Mai Ling allerdings als "Asiatin" quasi importiert.
Als Informatik-Studentin kann mich meine Haushälterin sogar bei Problemen mit dem PC oder dem Smartphone beraten. Demnächst will sie mir das armenische Nationalgericht Dolma zubereiten (ein mit Gemüse und Gewürzen gefüllter Strudel), sobald sie die nötigen Zutaten findet.
Eine große Jubiläumsfeier für das Projekt ist nicht geplant, obwohl sich aus dem Münchner Modell immerhin 32 weitere "Wohnen für Hilfe"-Stationen in Deutschland entwickelt haben. In der Gründungsstadt und deren Landkreis konnten in den vergangenen 25 Jahren rund 850 "Wohnpartnerschaften" vermittelt werden. Überwiegend an ältere Damen. Diese seien fremden Mitbewohnern gegenüber etwas offener als alte Männer, meint Brigitte Tauer.
Die längste Partnerschaft dauerte 14 Jahre, so lange führte eine junge Frau aus Aserbaidschan einen Münchner Kleinhaushalt. Als ältester Teilnehmer ist bei "Wohnen für Hilfe" ein 101-jähriger Mann gemeldet; ihm hat die Partnerschaft wohl so zugesagt, dass er noch eine zweite Studentin bei sich aufnahm.
Vielleicht kommt es ja auch gar nicht allein auf die Haushaltsführung an. Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) jedenfalls sieht in einer Festschrift derartige generationsübergreifende Wohngemeinschaften als eine große Chance, "dass Jüngere und Ältere voneinander lernen und ihren Horizont erweitern können".
25 Jahre Wohnungsvermittlung
Im Oktober 1996 hat das Projekt "Wohnen für Hilfe" das erste Studenten-Senioren-Paar vermittelt. Das Prinzip ist einfach: Die älteren Münchner haben ein Zimmer zu Verfügung, das sie Studenten anbieten. Die Jungen zahlen keine Miete, helfen aber dafür im Haushalt mit. Wie viele Stunden, hängt von der Größe des Zimmers ab. Pro Quadratmeter Wohnraum wird eine Stunde geholfen. Die Nebenkosten werden pauschal bezahlt. Die Art der Hilfe wird individuell vereinbart. Laut Studentenwerk handelt es sich dabei meistens um Aufgaben wie gemeinsam kochen, Rasen mähen oder Einkäufe erledigen. Pflegerische und medizinische Dienste jeder Art sind ausgenommen. Der Seniorentreff Neuhausen übernimmt die Organisation für München. Die Studenten werden individuell beraten. Wer ein Zimmer anbieten möchte, bekommt vom Seniorentreff einen Hausbesuch. Dafür wurde ein Hygienekonzept ausgearbeitet. Bei einem Gespräch wird geklärt, welche Wünsche und Bedürfnisse die Senioren haben. Haben Sie Interesse? Brigitte Tauer und Christian Tippelt sind Ihre Ansprechpartner. Tel.: 13 92 84 19-20.