Wirklichkeit und Illusion: So entstehen die Schaukästen im Deutschen Museum in München

Man möchte juchzen, grinsen und Freudehopser machen beim Anblick der puppenstubenkleinen Winzlinge: Miniatur-Menschlein und Meerestiere, Pyramiden und Palmen, Kronleuchter und Kraftmaschinen – es gibt fast nichts, was es nicht gibt in den berühmten Schaukästen des Deutschen Museums, die auch "Dioramen" heißen – aus griechisch "diá" (durch) und hórâma (sehen). Sie versetzen Besucher ins alte Ägypten oder ins Indien des 17. Jahrhunderts. Nehmen sie mit auf den Weg des elektrischen Stroms, lassen sie auf den Meeresgrund tauchen oder auf dem Mond landen.
140 solcher Schaukästen sind von 1909 bis 2013 im Deutschen Museum entstanden, um jeweils neue Ausstellungen zu schmücken. 40 davon sind aktuell in verschiedenen Abteilungen ausgestellt, der älteste aus dem Jahr 1924.
Alpenazaleen aus Tirol und Handarbeit mit ganz viel Liebe zum Detail
Der Archivleiter Wilhelm Füßl hat mit seinem Team jetzt einen Katalog über die Schmuckstücke zusammengestellt – und ist bei der Quellenforschung auf bislang unbekannte Geschichten gestoßen: "Da wird für das Immergrün im Diorama ein Mitarbeiter in die Tiroler Berge geschickt, um dort einen Rucksack mit Alpenazaleen zu pflücken – nicht ohne vorab die Innsbrucker Landesregierung um Genehmigung zu fragen. Oder man liest, dass in der NS-Zeit Dioramen auf Druck von NS-Organisationen verändert werden mussten, damit sie nicht zu sehr einem realen Vorbild ähneln", erzählt er.
In der Entstehung dieses Buches spiegelt sich auch die Arbeitsweise wider, die dem Bau der Dioramen zugrunde liegt: Um diese künstlichen und kunstvollen Wirklichkeiten so lebendig und informativ zu gestalten, braucht es die Expertise aus allen Bereichen des Deutschen Museums.
Bernhard Küchle, Chef der museumseigenen Bildhauer-Werkstatt, der an 15 Dioramen mitgetüftelt hat, gerät ins Schwärmen, wenn er vor den Miniatur-Werken wie der "Ochsentretscheibe" (siehe unten) steht: "Schauen Sie sich nur den Boden an, kein Pflasterstein ist wie der andere, jedes Stückchen ist von Hand gefertigt." Freilich könne man die kleinen Platten auch mit einem 3-D-Drucker herstellen - aber dann würden alle gleich aussehen – aber das hätte dann ja mit der Wirklichkeit eines italienischen Dorfs um 1600 nichts mehr zu tun. Aktuell arbeiten er und seine Kollegen an einer Szene für die neue Gesundheits-Ausstellung, eine OP mit Ätherbetäubung.
Zu den berühmten Dioramen des Deutschen Museums gibt es jetzt einen reich bebilderten Bildband der Autoren Wilhelm Füßl, Andrea Lucas und Matthias Röschner: "Wirklichkeit und Illusion. Dioramen im Deutschen Museum" (320 Seiten). Man kann den Katalog im Museumsshop für 18 Euro kaufen, im Buchhandel kostet er 24 Euro.
Starkstromtechnik - wie der Strom nach Hause kommt

Ein ganz schön langer Weg, den der Strom zurücklegt, vom Erzeuger bis zum Verbraucher daheim. Um bildlich zu machen, wie das in den 1950er Jahren in den bayerischen Alpen so ausgesehen hat, haben die Museums-Künstler 1953 dieses Diorama für die Abteilung Starkstromtechnik gebaut. Es ist riesige 5,60 Meter hoch, 6,80 breit und 2,63 tief. Und damit eins der größten Dioramen im Deutschen Museum. Eine nette Anekdote dazu: Das Immergrün für den Miniaturenschaukasten ist eigens in Tirol gepflückt worden.
Kraftmaschinen - die Ochsentretscheibe

Wie ein Hamster im Rad stapft der Ochse auf dieser hölzernen Riesen-Tretscheibe entlang – und dreht sie durch sein Gewicht. Eine ausgeklügelte Kraftmaschine, wie es sie um 1600 in der Po-Ebene in Oberitalien gegeben hat, um damit beispielsweise Getreidemühlen anzutreiben. Dieses Diorama ist 1955 nach einem Kupferstich von Vittorio Zonca entstanden.
Meeresforschung - auf dem Expeditionsschiff

Mit dem Forschungsschiff "Challenger", auf dem sich auch ein Labor befand, sind britische Abenteurer 1872 auf Expeditionsreise gegangen. Unser Foto zeigt ein Detail aus dem Diorama, das erst 2013 im Deutschen Museum gebaut wurde. Es ist in der Abteilung Meeresforschung zu sehen, mit unzähligen faszinierenden Details.
Glastechnik - Spiegelsaal der Amalienburg

Prunk und Leuchter im Miniaturformat: 1960 haben die Dioramen-Bastler den Spiegelsaal der Amalienburg im Nymphenburger Park (von 1743) nachgebaut. Zu sehen ist der Schaukasten heute in der Abteilung Glastechnik.
Kinderreich - Edward Hoppers Lichtgeheimnis

Das Gemälde "Nighthawks" (Nachtschwärmer), das Edward Hopper (ein amerikanischer Maler des Realismus) 1942 gemalt hat, strahlt geheimnisvoll. Die Dioramen-Tüftler haben sich den Spaß gemacht, die Bar von Hoppers Gemälde dreidimensional in diesen Schaukasten einzubauen: Als Bar des Münchner Hotels Mandarin Oriental. 4,80 Meter breit ist das Diorama mit faszinierender Lichtinstallation. Aktuell steht’s im Depot. Aber ab 2019 wird die Miniatur im neu konzipierten "Kinderreich" des Museums zu sehen sein.