"Wir lachen die Krankheiten aus"

Zehra (13) hat schon zwei Transplantationen hinter sich, ihre Mutter steht kurz vor ihrer dritten Herz-Operation. Die Familie versucht, optimistisch nach vorne zu blicken. Da käme Hilfe jetzt gelegen.
MÜNCHEN Am allerliebsten würde Zehra mal eine Lasagne probieren. „Die sieht immer so lecker aus”, sagt das zierliche Mädchen. Doch der kurze Genuss würde für Zehra unmittelbar im Krankenhaus enden. Und dort hat sie ohnehin schon einen großen Teil ihres Lebens verbracht.
Was die Schülerin mit ihren 13 Jahren alles durchgemacht hat an Schmerzen und Verzicht, kann sich ein gesunder Mensch kaum vorstellen. Sie hat bereits zwei Lebertransplantationen hinter sich. Die Artzney, die eine Abstoßung des fremden Organs verhindern sollen, lösten bei ihr eine schwere Lebensmittelunverträglichkeit aus. Die Produkte, die sie überhaupt essen darf, lassen sich an zwei Händen abzählen.
Ein schwerkrankes Kind stellt jede Familie auf eine harte Probe. Doch die Hamarats müssen sich nicht nur um ihr Mädchen sorgen. Auch wenn Zehras Mutter Monika schon so viele Nächte am Krankenbett ihrer Tochter gewacht hat, dass sie dabei zeitweise fast vergessen hat, wie krank sie selbst ist.
Die 48-Jährige leidet an einem angeborenen Herzfehler, derzeit ist sie körperlich kaum belastbar. Nächsten Monat steht ihr ein komplizierter Eingriff bevor. Die dritte Herz-OP ihres Lebens. Jeder Zehnte wacht danach nicht mehr auf. „Ich habe Angst davor”, sagt sie ganz offen.
Den Familien-Haushalt schmeißt Papa Baran (47). Er versucht, alle bei Laune zu halten, ist Pfleger und Clown in einem – dabei ist auch er krank: schwere Diabetes. Nur Zehras Bruder Atilla ist körperlich unversehrt. Aber das Leid seiner Liebsten hat den 15-Jährigen seelisch verwundet.
Wie geht die Familie mit ihrem harten Los um? Vater Baran antwortet auf die Frage mit einem fröhlichen Gesicht, ohne dabei aufgesetzt zu wirken. „Wir lachen die Krankheiten aus”, sagt er. „Wenn die Familie zusammenhält, kann uns keiner was anhaben.”
Baran und Monika: Die beiden hatten sich vor 28 Jahren in einer Münchner Diskothek kennengelernt. Es funkte gleich. „Und hält bis heute bombenfest”, sagen die Eheleute und lächeln sich an.
Monika wünschte sich ein Baby. Doch weil sie eine seltene Fehlbildung des Herzens hat, rieten die Ärzte ab. Zu gefährlich, hieß es. Ihr Herz sei zu schwach für eine Geburt. Der Wunsch der jungen Frau war stärker als alle Angst: Monika wurde schwanger.
Das Kinderzimmer war eingerichtet, die Freude riesengroß – da starb das Baby in ihrem Bauch. Nur drei Wochen vor dem Geburtstermin. Sie musste den toten Säugling zur Welt bringen. Es war ein Mädchen mit roten Haaren, genau wie ihre eigenen. Heute wäre die Tochter 26 Jahre alt. Nach dem traumatischen Erlebnis durfte niemand das Zimmer betreten, das für das Kind bereitgestanden hatte. Drei Jahre lang.
Bis schließlich Atilla, ein gesunder Bub, geboren wurde, dauerte es noch weitere acht Jahre. Zuvor war Monika nicht bereit gewesen, eine zweite Schwangerschaft zu wagen. Doch jetzt war das kleine Familienglück perfekt.
Zwei Jahre später kam auch noch Zehra. Sie schien ein gesundes Baby zu sein. Bis Bluttests nach vier Wochen alarmierende Ergebnisse zeigten. Die Diagnose erschütterte die Eltern. Die Gallenwege des Säuglings waren verschlossen, die Leber war schon völlig zerstört. Der Bauch des winzigen Mädchens: dick geschwollen.
„Ich habe mir sofort schwere Vorwürfe gemacht”, erzählt Mutter Monika. „Ich dachte, das Baby sei krank, weil ich ja selbst krank bin.” Doch die Ärzte erklärten ihr, dass beides nichts miteinander zu tun hat. Das Schicksal hatte einfach ein weiteres Mal ungnädig zugeschlagen.
Die ersten Lebensjahre verbrachte Zehra mehr in einem spezialisierten Krankenhaus in Hamburg als daheim in München. Mehrmals wurde sie operiert, mehrmals stand ihr Leben auf der Kippe. Am schlimmsten war es Ostern 2001, als Zehra drei Jahre alt war: Da fiel die Kleine ins Koma. Neun Tage lang, die Mediziner waren ratlos.
Baran Hamarat und seine Frau weinen, als sie davon erzählen. „Am neunten Tag habe ich viereinhalb Stunden auf Zehra eingeredet und ihr gesagt, dass wir sie brauchen”, sagt der Vater, der die Hand seiner Frau fest umgriffen hält. „Irgendwann hat sie die Augen geöffnet und Papa gesagt.”
Inzwischen lebt das bildhübsche Mädchen seit zehn Jahren mit seiner zweiten Spender-Leber. Wie lange das Organ noch seinen Dienst tut, wann die dritte Transplantation ansteht, ist ungewiss. In den vergangenen Wochen haben sich Zehras Blutwerte wieder verschlechtert.
Auch ob ihre Lebensmittel-Unverträglichkeit – eine Folge der Artzney, die sie einnehmen muss – irgendwann besser wird, weiß niemand. Als Kleinkind biss sie einmal ein Stückchen von der Milchschnitte ihres Bruders ab. Sofort reagierte ihr Körper mit einer Gesichtslähmung, der Rettungsdienst musste anrücken.
Manchmal fragt sie ihre Eltern: „Wie schmeckt ein Ei? Wie schmeckt Käse oder Ketchup?” Doch die Kleine klagt nicht: „Ich bin daran gewöhnt”, sagt sie. Ihr Lieblingsessen sind Kartoffeln mit Salz. Ohne Butter – denn die verträgt sie auch nicht.
„Zehra ist eine Granate”, sagt ihr Papa stolz. „Sie hat Temperament für vier Kinder.” Und sie ist unglaublich tapfer: Schon als kleines Kind habe sie sich beim Arzt immer selbst auf die Vene geklopft, damit er besser Blut abnehmen kann. Der Vater ist überzeugt: „Ein Kind mit einem anderen Charakter hätte all das, was sie durchmachen musste, nicht überlebt.”
Für Selbstmitleid scheint der ganzen Familie Hamarat die Zeit zu schade. „Morgen geht’s besser”, lautet das Motto an schlechten Tagen. Und doch gibt es auch schwache Momente. So schafft es Baran nicht, sich in die Schlange Bedürftiger einzureihen, die für kostenlose Lebensmittel anstehen. Das muss seine Frau erledigen. „Ich pack das nicht, weil mir dann bewusst wird, wie schlecht es uns geht”, sagt er. „Und ein bisschen Scheinwelt will ich mir bewahren.”
20 Jahre lang hat Baran bei einer Firma für Büroartikel im Außendienst gearbeitet. 2009 verlor er seinen Job. Wegen der Erkrankungen seiner Tochter und seiner Frau war er öfter ausgefallen. Dutzende Bewerbungen liefen seither ins Leere.
Derzeit kommt die Familie nur über die Runden, weil der 15-jährige Atilla einen Teil seines kleinen Ausbildungsgehalts beisteuert. Er lernt Metzgerei-Fachverkäufer. Der stille, ernste Jugendliche macht sich viele Sorgen um seine kleine Schwester. „Ich versuche, sie aufzubauen. Und ihr zu sagen, dass es nicht so schlimm ist.”
Er hat eine Methode gefunden, sich von all den Problemen abzulenken: Er malt. Detailreiche Comics, bunte Landschaftsbilder – Atilla hat Talent. Und das nutzt er, um sich in eine andere Welt zu flüchten. Eine Welt, die er allein gestaltet. Eine Welt, in der Krankheiten nichts zu suchen haben. Und auch die Geldnot der Familie keine Rolle spielt.
„Wir müssen auf alles verzichten”, sagt Papa Baran und zuckt die Schultern. „Ist halt so.” Zum Überleben hätte es noch immer gereicht.
Was die Familie aber dringend bräuchte, ist ein funktionsfähiges Auto. Zehras Erkrankung muss weiterhin in Hamburg behandelt werden. Wenn sie dort in der Klinik liegt, haben die Eltern auch früher schon mal im Wagen übernachtet – für eine Pension fehlt ihnen das Geld.
Doch das bisherige Auto gibt langsam den Geist auf, die nötigen Reparaturen kosten rund 2500 Euro. Unbezahlbar für die Familie. Und vielleicht wäre sie mit einem neueren Gebrauchtwagen ohnehin besser beraten.
„Das Auto ist aber nicht der Grund, warum wir unsere Geschichte erzählen wollten”, sagt Baran. „Wir möchten anderen Familien, die das hier lesen, Kraft geben.” Man müsse jeden Tag genießen. „Wer weiß, was danach kommt.”