Willkommen in unserer Küche: AZ-Redakteurin über ihr Leben mit einer Familie aus Odessa
München - Ich zieh aus, Mama, sagt der Sohn am Telefon, für eine Woche. Dann nehmen wir auch Leute auf, okay? Es ist Tag acht nach Kriegsbeginn in der Ukraine, ein Donnerstag, eine gute Woche vor Semesterstart an der Hochschule.
Mein Sohn meldet sich vom Hof der Ukrainischen Kirche in Giesing, wo an die 300 freiwilligen Helfer Windeln und Medikamente auf Lkw verladen. Der Pfarrer sei eben mit dem Megafon über den Platz gelaufen, es kämen bald Menschen an, sie bräuchten ein Obdach. Wer, bitte, kann helfen?
Geflüchtete aus der Ukraine: Freitagnachmittag sind sie da
Freitagnachmittag sind sie da, blass, abgekämpft steigen sie aus dem Auto vor unserer Tür in Schwabing. Drei Menschen, drei kleine Koffer, drei Gesichter, in denen Ratlosigkeit steht, Müdigkeit. Tränen auch.
Willkommen, sagen wir, Tee? Oder etwas essen? Die Frau legt die Hände gefaltet an ihre Wange. Schlafen also, bitte nur schlafen.

Tanyas Eltern, beide Sanitäter, bleiben in Odessa zurück
Samstagmorgen geht ihre Zimmertür auf. Mein Blick fliegt über Betten und Gästematratzen, auf denen Kissen und Decken schon aufgeschüttelt und gefaltet sind.
Beim Frühstück das erste Lächeln. Englisch oder Deutsch sprechen unsere Gäste nicht, wir probieren den Google-Übersetzer im Handy. Deutsch reinsprechen, dann kommt Ukrainisch heraus und umgekehrt. Das klappt gut.
Aus Odessa kommen sie also, erfahren wir. Tanya (36) und ihre Tochter Lina (16) haben in der Nacht nach Kriegsbeginn ihre Stadt verlassen. Raus aus der prunkvollen Metropole am Schwarzen Meer, weg vom Lieblingsstrand, den die Armee inzwischen vermint hat. Einfach nur los, zur Grenze, nach Moldawien.

Tanyas Eltern, eine Sanitäterin und ein Krankenwagenfahrer, wollen nicht mit, sie werden mehr denn je gebraucht in diesem Krieg. Ihr Verlobter Eugen (44), der zu dem Zeitpunkt schon im Ausland war, schloss Frau und Kind hinter der Grenze in die Arme. Sieben Tage fuhren die drei Richtung Westen, durch Rumänien, Ungarn, Österreich, Gut 2.000 Kilometer, bis jemand sie zur Ukrainischen Kirche in Giesing gelotst hat. Nun also München. Aber was jetzt?
Was können wir machen, ohne Hilfe von Deutschland zu brauchen, fragen sie. Nie hätten sie bisher Hilfe gebraucht.
Als Tanya Fotos von daheim in Odessa zeigt, wird ihr Blick ganz weich. Sie mit Tochter Lina am Strand vor rosa Abendwolken, Möwen, die sie umfliegen. Tanya strahlend in einer Köchinnen-Jacke, Teller mit Pasta, Fleischgerichten, Kuchen und Törtchen in Händen. Köchin bist du? Ja, Küchenchefin, genau wie Eugen.

Sie sehen mein Lachen, die Handbewegung zum Herd, bitte sehr, fühlt euch frei. Es ist der Moment, an dem meine Gäste zu Gastgebern werden, sie sind einfach schneller, am Kochlöffel, an der Spülmaschine, an Schaufel und Besen auch.
Es gibt Brezn und Obatzdn zum Vorstellungsgespräch
Am Sonntag gibt's Borschtsch, eine köstliche rote Suppe aus Roter Bete, Weißkohl, Kräutern, Rindfleisch und Schmand. Und jetzt ist klar, wie es weitergehen kann. Ich schreibe eine Nachricht an den Hotel- und Gaststättenverband: Ich habe zwei ukrainische Küchenchefs hier, aus der Hotelgastronomie. Wer kann mit einer Arbeitsstelle helfen?
Keine Stunde später meldet sich der Wirt vom Augustiner Klosterwirt an der Frauenkirche. Sollen vorbeikommen, sagt Gregor Lemke, gleich am Montag.
Zum Vorstellungsgespräch gibt's Brezn und Obatzdn, Lemke hat seinen Küchenchef dazugeholt. Was können Tanya und Eugen, was brauchen sie? Die Übersetzer-App macht ein langes Gespräch möglich.
Vielleicht sind es die Bilder aus der Küche in Odessa, die den Ausschlag geben, die Bratengerichte, die Törtchen, der kunstvoll geflochtene Osterzopf.
Wann braucht der Sohn sein Zimmer wieder, fragt der Wirt, am Wochenende? Das kriegen wir hin. In einer Personalwohnung für Köche sind gerade zwei Zimmer frei. Bitte noch die Arbeitserlaubnisse für beide besorgen, dann fangen sie kommenden Montag an.

Was jetzt folgt, ist anstrengend - jedenfalls vor dem Hintergrund der Behördenverlautbarung, Ukraineflüchtlinge dürften "sofort" in Deutschland arbeiten. Sofort heißt in Wahrheit: Es dauert. Denn es sind viele Schritte, die zu gehen sind.
Es dauert sechs Tage, bis per Mailantwort bestätigt wird, dass meine Gäste sich bei der Regierung von Oberbayern registriert haben - und das klappt nur durch Nachhaken, wie macht das jemand, der nicht weiß, wo und wie? Ohne diesen Nachweis kann kein Antrag auf Arbeitserlaubnis gestellt werden.
Ebenfalls vorher zu erledigen ist die Anmeldung eines Wohnsitzes in München. Dafür braucht's einen der raren Termine beim Einwohnermeldeamt, und wer soll eigentlich für ein Obdach bei einer Münchner Gastfamilie, die selber in Miete wohnt, die Wohnungsgeberbestätigung unterschreiben?
Als alle Dokumente eingereicht sind, werden weitere verlangt
Nächster Schritt, Ausländerbehörde. Als alle geforderten Dokumente per Mail eingereicht sind, werden Tage später weitere verlangt, wie: Einreisestempel von der deutschen Grenze - die es nicht gibt in den Pässen meiner Gäste. Wann ist zwischen Österreich und Deutschland eigentlich zuletzt gestempelt worden?
Also kein Arbeitsbeginn am Montag, umziehen darf die Familie trotzdem schon. Es wird schon werden, sagt der Wirt, der mit Hilfe von Augustiner-Wirtefreunden die Personalzimmer schon mal für Eltern und Kind möbliert hat. Warten wir halt noch ein bisserl.
Und noch andere Münchner machen die Arme weit auf - für Tochter Lina diesmal. Weil, was soll aus dem Mädchen werden, genau wie aus den Hunderten anderen Kindern aus der Ukraine, die München erreicht haben? Über neue Schulklassen wird nachgedacht in der dritten Kriegswoche. Nur, es gibt eben noch keine.
Ein Glück, dass Lina Handballerin ist, sie hat auf einer Sportschule trainiert in Odessa. Und ein Glück, dass ein Sonntags-Anruf beim TSV München-Ost reicht, um zu hören: Ja sowieso, soll kommen, gleich am Montag zum Training der Handballmädchen in die Sporthalle am Ostbahnhof.

Ein Anruf beim TSV reicht: Ja sowieso, das Mädel soll kommen
Am späten Abend erreicht mich eine Nachricht der Trainerin, tolles Tor-Mädchen, schreibt sie, und ob uns dieser Elternbrief vom Gymnasium der Armen Schulschwestern in der Altstadt interessiere. Den habe ihr eine Handballerin geschickt und an Lina gedacht.
Man werde übermorgen spontan eine Übergangsklasse für Mädchen aus der Ukraine starten, 10. Klasse, erklärt die Direktorin in dem Schreiben. Wer passende Mädchen kenne, bitte melden. Um Mitternacht maile ich ihr, früh um 6.30 Uhr hat Lina die Zusage für den Schulplatz. Am Tag drauf, drei Wochen nach Beginn des Krieges, bringt mein Sohn sie zum ersten Schultag in München.
Denn zeitgleich haben Tanya und Eugen endlich ihren Termin auf der Ausländerbehörde. Sie bekommt die Anerkennung als Kriegsflüchtling, weil sie erst nach Beginn der russischen Invasion am 24. Februar die ukrainische Grenze passiert hat.
Sie darf ab sofort arbeiten. Eugen muss noch warten. Die Rechtslage, sagen die Sachbearbeiterinnen, sei noch nicht klar für Ukrainer, die schon kurz vor dem Stichtag ausgereist sind. Man werde sich melden, wenn man mehr wisse.
In diesen Tagen liegen russische Kriegsschiffe vor Odessa, Tanyas Eltern retten Verletzte an der Front, Eugens Neffe ist junger Soldat, eingekesselt in Mariupol. Wir sprechen nicht darüber.
Danke, dass wir bei euch sein durften, sagt Tanya, als sie mit den Koffern in der Tür steht, und: Wenn der Krieg vorbei ist, zeige ich dir Odessa, dann bist du mein Gast.
Mein Sohn, nebenbei, ist wieder zuhause eingezogen, pünktlich zum Semesterstart.