Wiesn-Vorglüher: Hackedicht vorm Hackerzelt

MÜNCHEN - Auffällig viele Wiesn-Besucher kommen schon betrunken auf die Theresienwiese. "Vorglühen" heißt der neue Sport: Hunderte trinken schon vor dem Anstich – die erste Bierleiche liegt um 14 Uhr vorm Zelt
Andi kann nicht mehr. Mit dem Rücken lehnt er an der Wand des Hofbräu-Zelt. Es ist sechs Uhr in der Früh am Samstag, doch Andi hat schon genug vom Alkohol. „Der hat sich weggeschossen, vielleicht weil er zum Bund muss“, scherzen seine Kumpels. Der 18-Jährige hat den ersten Kater des Oktoberfests – Stunden vor dem Anstich.
Seine Freunde Sebastian und Christoph sind noch munter. Sie alle sind schon am Freitagabend aus Würzburg zum „Vorglühen“ zur Theresienwiese gefahren. Die ganze Nacht über haben sie mit Bier und Flachmännern mit hunderten anderen gefeiert. Dass die frühmorgendlichen Saufgelage mittlerweile genauso zur Wiesn gehören wie der Anstich von OB Christian Ude, ist Tatsache. Polizeisprecher Wolfgang Wenger: „Das ist ein Trend, den man kaum positiv nennen kann.“ Und: „Es ist auffällig, wie viele es heuer wieder waren.“
Immer früher, immer jünger: Die Atmosphäre vor den Zelten erinnert an eine Klassenfahrt ohne Aufsichtsperson. Die erste Bierleiche ist dann auch 16 Jahre alt: Kurz nach 14 Uhr behandelt das BRK den Teenager, der im Zelt nur noch eine Maß geschafft hat. Bis zum Nachmittag kassiert die Polizei noch fünf 15-Jährige ein, die volltrunken übers Fest torkeln.
Leonie und ihre Freundinnen wollen länger durchhalten. Doch kurz nach sechs Uhr mischt sich Panik in die Vorfreude. „Jetzt müssen wir uns beeilen“, rufen sie sich zu. Erst in drei Stunden öffnen die Zelte, der Druck auf die Tore der Bierburgen steigt. Hunderte stehen vor den Eingängen und grölen: „Aufmachen!“ Nur wer in vorderster Front steht, hat Chancen, einen Platz zu erwischen, bevor die Zelte wegen Überfüllung wieder schließen.
Fünf Bier haben die 21-jährige Leonie und ihre Freundinnen schon intus – und das kurz vor Morgengrauen. „Wir kommen auf jeden Fall rein – wir setzen auf den Busenfaktor“, verkündet die Studentin unter dem Gelächter der anderen. Bier und Busen statt Ellenbogen, das ist ihre Strategie. Denn eines soll nicht wieder passieren: „Letztes Jahr, da haben sie uns fast tot gedrückt“, sagt Leonie und deutet auf die Haupteingänge der Zelte. Doch dort ist heuer nur ein Absperrband zu sehen. Um den morgendlichen Sturm auf die Zelte zu verteilen, sind zum Wiesnauftakt nur die Seiteneingänge offen. So wollten es KVR und Polizei in ihrem neuen Sicherheitskonzept. Und: Die Zelte dürfen schon um acht Uhr öffnen.
„Den Sturm abfedern, den Druck wegnehmen“, ruft Roman Piccenini im Hackerzelt seinen Männern zu und wirkt dabei wie ein Feldherr, der seine Soldaten in eine aussichtslose Schlacht schicken muss. Draußen ist es nun vollends hell, die bierselige Meute wird ungeduldig. Eine halbe Stunde später gibt Piccenini das Zeichen: Schleusen öffnen! Die 16-jährige Meggy ist um 8.27 Uhr als erste von tausenden Wiesnbesuchern im Hackerzelt. Dann stürmt auch ihre Freundin Olivia heran. Sie springen beide auf einen Tisch, reißen die Arme nach oben.
„Wir haben nicht so viel getrunken“, sagen die Schülerinnen. Deswegen seien sie schneller als andere gewesen. Mehr als vier Stunden müssen sie noch ausharren, bis es um 12 Uhr Bier gibt. Für den verkaterten Andi und seine Kumpels im Hofbräuzelt eine gute Nachricht. Denn das heißt: Platz sichern und auspennen bis zum Anstich. „Danach“, sagen sie, „geht’s dann erst richtig los.“
Reinhard Keck