Wiesn-Lust und Leidenschaft

Mit einer Hochzeit begann alles. Bis heute ist das Oktoberfest der größte Anbandel-Markt der Stadt – wenn nicht sogar der Welt
Ich nehm’ die Dunkle, Du die Freundin.“ Ein Satz mit lebenslangen Folgen: 1956 war es, als der Münchner Friedrich Oswald mit einem Spezl auf der Wiesn flanierte. Ihm entgegen kam die 17-jährige Hannelore mit einer Freundin. Ein paar Stunden später gab es auf dem Pferdl-Karussell den ersten Kuss. „Den Moment vergess’ ich mein ganzes Leben nicht“, sagt Oswald heute, 54 Jahre später. An Heirat dachte er zwar nicht, „aber geschnackelt hat es sofort“.
Die Geschichte der Oswalds ist keine typische Liebesgeschichte, aber doch eine typische Münchner G’schicht. Eine, die nur hier passieren kann, eine, die das Oktoberfest braucht. „Draußen liegt immer ein Knistern in der Luft. Sonst hätte ich mich nicht an Hannelore rangetraut“, sagt Oswald. „Die Menschen entfliehen dem Alltag, die Moral ist gelockert und der Kontakt schnell hergestellt“, sagt Psychologin Brigitte Veiz. In ihrem Buch „Wiesnwahnsinn“ (Hirschkäfer Verlag, 9,90) geht sie dem Geplänkel zwischen Hendl und Krügen auf die Spur. „Durch das Bier und den damit verbundenen Rausch ist die Wiesn eine gute Partnerbörse.“
Von der auch Philipp Lakatos und Nadine Schneider profitierten: Als der angehende Arzt und die Krankenschwester nach einem gemeinsamen Notarzteinsatz auf der Wiesn ins Zelt gingen, funkte es. Heuer werden sie und zwei weitere Paare von Oberbürgermeister Christian Ude am 12. Oktober getraut. 200 Jahre nachdem Bayerns Kronprinz Ludwig die Ehe mit der Sachsenprinzessin Therese einging – und das erste Oktoberfest stattfand. Wie Friedrich seine Hannelore und Philipp seine Nadine, liebte auch Ludwig seine Therese – zumindest, bis er Lola Montez begegnete.
Um so etwas Romantisches wie Liebe, Hochzeit, Treue ging es König Max auch gar nicht, als er die Feier samt Pferderennen für seinen Sohn ausrichtete. Er wollte die Menschen seines erst vier Jahre alten Königreichs zusammenbringen, dem jungen Bayern eine eigene Identität geben. Der Monarch als Marketing-Manager. Dass aus den „October-Festen“ eine Institution werden würde, die das Bild Münchens, sogar Deutschlands, in der Welt prägt, ahnte damals freilich noch keiner.
Denn prägend war die Wiesn im 19. Jahrhundert nur für die Mädchen vom Land, die sich hier rumkriegen ließen. Überliefert ist ein sprunghafter Anstieg der Geburten in Bayern neun Monate später. Nirgends ging es so wild zu, sagt Psychologin Veiz. „Die Buben kamen den Mädchen vor allem beim Tanz in den Zelten näher.“ Die Folge: ein Tanzverbot, das bis heute gilt.
Die Wiesn wurde Ende des 19. Jahrhunderts züchtiger, ja, bürgerlicher. Nirgends war das deutlicher als im Hippodrom, dort, wo es heute die Promis krachen lassen. Anfang des 20. Jahrhunderts trabten dort die Pferde, bewundert von den bürgerlichen Damen. Für sie war es undenkbar, in ein Bierzelt zu gehen und – Gott bewahre – gar mit dem Landvolk zu feiern.
„Die Wiesn wird erst wieder in den 60ern zum Partnermarkt“, sagt Veiz. Die sexuelle Revolution und die vielen in München stationierten G.I.s ließen die Moral lockerer werden. Und machten Liebesgeschichten wie die der Oswalds möglich.
Hört man sich in München um, bahnen sich Beziehungen immer öfter auf der Wiesn an. Doch die ewig währende Wiesn-Liebe wird seltener: Die Ehepaare, die heute noch zusammen sind, haben sich meist vor den 60er Jahren kennen gelernt. Dass eine heute auf der Wiesn begonnene Liebe von Dauer ist, bezweifelt Brigitte Veiz. „Das ist sicher die Ausnahme. Die Männer sind mutig, die Frauen Prinzessinnen im Dirndl.“ Beim nächsten Treffen im Kino ist der Traum dahin. „Die Leute inszenieren sich und suchen oft schnellen Sex“, sagt Veiz. „Dass man auf dem Oktoberfest einen Partner zum Knutschen findet, hat sich weltweit in den Köpfen manifestiert.“
Auch Hannelore Oswald sieht die Wiesn heute skeptisch. „Es hat sich alles verändert – die Massen, die Zelte, wie man sich anzieht“, sagt sie. Einzig eine Sache ist nach über fünf Jahrzehnten noch so wie 1956: „Es ist das Flair, das rauschende Fest, das so viele Leut’ flirten lässt.“ Kathrin Koophamel