"Wie viele Leute sind im Haus?" Training für die große Flut in München

Wie hilft man, wenn Häuser unter Wasser stehen, Kinder bei Hochwasser campen, Verletzte sich vor Schmerzen krümmen? Die AZ war bei einer 24-Stunden-Großübung mit Bergrettern und Wasserwacht am Lußsee dabei.
von  Max Wochinger
Teamwork ist unverzichtbar - wie hier bei der Bergungsübung am Lußsee. Eine Übung trainiert nicht nur Abläufe und die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Hilfsorganisationen. Sie stärkt auch das Zusammengehörigkeitsgefühl der Helfer.
Teamwork ist unverzichtbar - wie hier bei der Bergungsübung am Lußsee. Eine Übung trainiert nicht nur Abläufe und die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Hilfsorganisationen. Sie stärkt auch das Zusammengehörigkeitsgefühl der Helfer. © Max Wochinger

München -  Das Unwetter am vergangenen Donnerstag im baden-württembergischen Bisingen hat Schäden in Millionenhöhe verursacht. Extremwetterereignisse werden sich häufen, warnen Experten. Die Liste ist lang: Passau 2013, Simbach am Inn 2016, Ahrtal 2021: Immer wieder kommt es zu heftigen Flutkatastrophen in Deutschland aber auch in anderen Teilen der Welt. Wenn das Hochwasser Häuser wegspült oder Menschen auf Dächer flüchten, ist die Hilfsorganisation Rotes Kreuz zur Stelle. Damit beim nächsten Hochwasser jeder Handgriff sitzt, hat die Münchner Wasser- und Bergwacht am Wochenende den Ernstfall geprobt: 100 Rotkreuz-Einsatzkräfte versammelten sich am Riemer, Langwieder und Lußsee für eine 24-Stunden-Großübung. Die beteiligten Ortsgruppen wie Feldmoching oder Unterhaching sowie die Bergwachten München erhielten am Freitag die Alarmmeldung, dass im Bereich Langwied ein Bach über die Ufer getreten ist. Dauerregen, großflächige Überschwemmungen - Privathäuser und Gewerbebetriebe sind von der Infrastruktur abgeschnitten. Alles nur ausgedacht, doch so sollte die Übung möglichst realistisch werden.

Großübung am Lußsee: "Eine typische Situation bei Hochwasser"

Zwölf Szenarien wurden durchgespielt, um den Ablauf eines Einsatzes von Wasser- und Bergwacht nachzustellen. So mussten beispielsweise Kinder und Jugendliche in den Nachtstunden von einem Campingplatz evakuiert werden. Und die Drohnengruppen wurden alarmiert, um am Riemer See nach Vermissten zu suchen. "Derartige Großübungen, bei denen verschiedenen Ortsgruppen, die ansonsten nicht zusammenarbeiten, beteiligt sind, sind für die Einsatzkräfte enorm wichtig", erklärt Rudolf Brettner, technischer Leiter der Wasserwacht München, am Samstag. Und die Langwieder Seenplatte mit der nahe gelegenen Kiesgrube sei besonders für die Großübung geeignet, so die Hilfsorganisation. Eine besonders wichtige Simulation: die Rettung von Flutopfern von einem Hausdach. Dafür stellte das Rote Kreuz eine schwimmende Attrappe in den Lußsee - samt vier Darstellern, einer mit einem simulierten Beinbruch. "Das ist eine typische Situation bei einem Hochwasser", sagt Johann Penn, Übungsleiter der Münchner Wasserwacht. Verängstigte Flutopfer, wenig Platz, Gefahrenquellen wie Regenrinnen. Die vier Darsteller auf dem Dach schreien um Hilfe, bis endlich zwei Rettungsboote zum Dach gelangen. "Hinsetzen!", ruft einer von der Wasserwacht zu den Gestrandeten. "Wie viele Leute sind im Haus?"

Die Einsatzkräfte sichern die Gummiboote mit einem Seil und machen sich an die Rettung der Flutopfer. Der Verletzte wird mit einer klappbaren Schaufeltrage vom Dach geholt. "Wie fahre ich am besten an das Dach hin?", sagt Übungsleiter Penn. "Die Dachsparren sind wie in einem richtigen Haus aufgebaut. Die Stehhöhe unterm Dach beträgt nur 80 bis 90 Zentimeter. Das ist eine tricky Situation." Szenarien wie diese habe man so "eins zu eins" in der Vergangenheit erlebt, so Penn. Die Münchner Wasserwacht war etwa beim Hochwasser 2013 in Passau und Deggendorf im Einsatz. In der Großübung wolle man Situationen nachspielen, die im Einsatz nicht reibungslos gelaufen sind, sagt Penn. Dazu gehöre das Slippen, also das Eingleiten des Boots ins Wasser. "Da zeigt sich immer wieder, dass das zäh läuft." Bei Hochwassereinsätzen müssen Boote häufig ins Wasser gelassen und wieder hinausgeholt werden. Am Badestrand des Lußsees werden die Flutopfer versorgt. Der Verletzte mit dem gebrochenen Bein krümmt sich vor Schmerz, seine Begleiterin hält ihm mitfühlend die Hand. "Das pikst jetzt", sagt die Notärztin, als sie so tut, als lege sie ihm eine Infusion. Die sogenannten Mimen beweisen Schauspieltalent, manche tragen sogar "unfallrealistische Schminke", so das Münchner Rote Kreuz.

Eineinhalb Jahre Planung für diesen einen Tag

Die Großübung sei die erste seit zehn Jahren. Anderthalb Jahre habe man sie geplant. Für Sonntag war die Rettung von Flutopfern von Bäumen geplant - mit einem Helikopter. Eine Besonderheit der Übung waren auch die stressigen Einsatzzeiten: 24 Stunden waren die Rettungskräfte vor Ort, zum Ausruhen und Schlafen blieb nur wenig Zeit. "Bei dem 24-Stunden-Szenario wollten wir ganz bewusst die Dauer, die ein Einsatz wegen Hochwasser mit sich bringt, simulieren", sagt Penn. Die Stresssituationen der ehrenamtlichen Retterinnen und Retter: absolut gewollt. Jedes Szenario wurde zweimal durchgespielt: Nach dem ersten Durchlauf am Samstag wurden die Einsätze bewertet und reflektiert. Dabei wurden digitale Bewertungsschemata benutzt; besonders Sicherheitsaspekte wurden unter die Lupe genommen. Am Sonntag sollten die Übungen noch einmal durchgespielt werden - mit den Beobachtungen vom Vortag.

Am Ende des ersten Übungstags zog das Münchner Rote Kreuz eine positive Bilanz: Die Hochwasserübung habe gezeigt, dass die Rettungskräfte "flexibel genug" seien, um auch Einsätze zu meistern, die nicht zum üblichen Tagesablauf einer Wasserwachtstation gehören. Gerade die jüngsten Hochwasserereignisse zeigten auf, wie wichtig die Vorbereitung auf diese Einsätze sei.

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