Wie Velocipedisten München zur Radlhauptstadt machten

München - Der Beginn der Münchner Rennrad-Geschichte lässt sich genau datieren. Am 25. Mai 1869, vor fast genau 150 Jahren, gründete der Maschinentechniker Conrad Gautsch einen "Velociped-Club", einen der ersten der Welt.
Längst hatten französische Konstrukteure die viel verlachte „Laufmaschine“ des badischen Forstbeamten von Drais zur Tretmaschine mit Kurbel am etwas höherem Vorderrad, Vollgummireifen, gefedertem Sattel und Bremse entwickelt.
Bastler, gern waren es Kutscher, montierten die ersten echten Fahrräder der Stadt in kleinen Werkstätten aus Eisenteilen, bis der Nähmaschinenproduzent Joan Strobl 1880 in seiner "Ersten Münchner Velociped-Fabrik" die Herstellung von Hochrädern und Drei-Personen-Tandems in größerer Stückzahl startete.
Hochradfahrer tragen Rennen in den Isarauen aus
Neben der – zunächst sehr fragwürdigen – Sicherheit galt das Interesse vor allem der Geschwindigkeit. Velociped-Rennen waren denn auch bald bei den Münchnern sehr beliebt. Auch wenn die 25 Kilo schweren Räder zuerst kaum schneller als 15 Kilometer in der Stunde schafften.
In der Stadt waren sie tagsüber polizeilich verboten. Deshalb mussten die ersten Hochradfahrer ihre Wettkämpfe in den Isarauen austragen. Früh mussten sie aufstehen oder den Feierabend opfern. Das erste Hochrad, dessen Erfindung auf das Jahr 1870 datiert wird, soll in München der extravagante Wirt des "Metropol" am Dom gefahren haben, der legendäre "Papa Kern".
Jeder Velocipedist muss Fahrprüfung ablegen
Ab 1883 gehörten Radlrennen zum festen Programm auf der Wiesn. 1886 konnte sich der Velociped-Club den Bau der ersten Profi-Radrennbahn der Welt leisten; sie war 500 Meter lang und befand sich auf dem Schyrenplatz in Untergiesing, direkt neben dem ersten Freibad der Stadt.
Inzwischen verzeichnete das Stadtadressbuch zwölf "Bicyle- und Velocipedisten Clubs", mit so schönen Namen wie "Panther", "Adler" oder "All Heil" – so lautete auch der übliche Radlergruß. Jeder Velocipedist musste eine Fahrprüfung ablegen und bekam ein Nummernschild für sein nicht ganz ungefährliches Gefährt.

Oft erschienen sie im Polizeibericht und – vor allem die Radlerinnen mit ihrem fesch-frechen Sportgewand – in den Satireblättern. Erregt berichtete eine seriöse Zeitung über die Ehefrau des Velocipedfabrikbesitzers Strobl, als sie durch die Maximilianstraße geradelt war, "in einem geblümten leinenen Rock, durch den die stampfenden, das Vehikel in Bewegung setzenden Beine sich jedem, so er darauf erpicht war, leicht präsentierten. Ohne Scham, stolz wie eine Amazone, ließ die holde Donna sich männiglich mustern."
Lokalmatador Josef Fischer feiert umjubelten Sieg
Am 15. August 1894 erlebte eine riesige Menschenmenge auf dem Schyrenplatz ein spektakuläres Rennen. An den Start gingen: der Wildwest-Reiter Samuel Franklin Cowdery, der sich fälschlich als Sohn des berühmten Buffalo Bill ausgab, und mehrere Radrennfahrer, darunter die Lokalmatadore Josef Fischer aus dem Westend, der als der beste Straßenrennfahrer der Welt galt, sowie Heinrich Roth, Münchner Europameister im Hochradfahren und achtmaliger Gewinner auf der Wiesn.

Auf einer Länge von 50 Kilometern sollte das ungleiche Rennen zwischen Ross und Stahlross ausgetragen werden, auf der mit Sand aufgefüllten Innenbahn der reitende Amerikaner, auf der Außenbahn mit überhöhten und damit hohe Geschwindigkeit zulassenden Kurven die Radfahrer auf Nieder- und Hochrädern sowie Tandems.
Nach sieben Stunden, verteilt auf zwei Tage, hieß der umjubelte Sieger: Josef Fischer. Er konnte die stattliche Prämie von 1.500 Mark in Stücken aus funkelndem Gold einstecken. Cody, der Buffalo-Bill-Imitator, gab wenige Monate nach diesem spektakulären Rennen am Schyrenplatz sein Schaustellerleben auf.
Der erste Dopingverdacht: Weißwein mit Whisky
Fischers Ruhm strahlte in alle Welt. 31 Stunden brauchte er von Wien nach Berlin, obwohl er wegen einer Verletzung nur den rechten Fuß benutzen konnte. Als man ihm bei der Ankunft einen Sitzplatz anbot, sagte er: "Danke, i hab gnua gsessen." Allerdings rumorte nach dieser Distanzfahrt auch erstmals ein Dopingverdacht – von Weißwein mit Whisky war die Rede.
Radsportler waren vor der Jahrhundertwende sehr populär – und sehr gut bezahlt. Man traf sich im Café Noris an der Leopoldstraße, wo es neben einer Badeanstalt auch ein eigenes "Radlerheim" gab. München entwickelte sich zur Hauptstadt des deutschen Radsports.
Regelmäßig fanden auf zehn ausgebauten Plätzen – der in Milbertshofen war der größte im Reich - organisierte Rennen statt, "Der bekannteste Rennfahrer Deutschlands" – so nannte Karl Valentin in seinen Lichtbildvorträgen eine andere Legende: Thaddäus Robl.
Valentin war allgemein vom Radeln begeistert. In mehreren Stücken spielte das Zweirad eine tragende Rolle. Seine Porträt-Sammlung wimmelt von Fotos und Ansichtskarten mit Radl-Motiven und Radl-Helden.
Thaddäus Robl: "A Viech muass ma sein"
Robl also: Der war als Kind wegen einer Nervenkrankheit fast gelähmt und musste mit dem Handwagerl zur Schule gefahren werden. Das Hochrad des Vaters aber war ihm ein Medium, um – zuerst heimlich, dann auf Anraten des Arztes – seine Muskeln zu trainieren.

Gegen den Willen der Eltern nahm er 1894 an einem Straßenrennen teil. Schon beim nächsten wurde er als Sieger bekränzt. Später wurde "Thaddy" Europa- und Weltmeister – durch härteste, kämpferische Disziplin und Tollkühnheit.
Ein Foto von 1903 zeigt ihn nach einem schweren Sturz. Am nächsten Tag, beim Pfingstrennen von Magdeburg, riss er sich während der Fahrt sämtliche Verbände vom Leib - und gewann das 50-km-Rennen. Robls Kommentar danach: "A Viech muass ma sein."
Er wurde ein Dandy. Im Juni 1910 stürzte er mit seinem Eindecker bei einer Flugschau ab. Das erste Opfer der deutschen Zivilluftfahrt wurde auf dem Alten Südfriedhof beigesetzt.


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Der Artikel basiert auf dem von Karl Stankiewitz verfassten Buch "Münchner Originale. Fotografien aus der Sammlung Karl Valentin" (Allitera Verlag), herausgegeben vom Stadtarchiv München. Das Buch erscheint in Kürze.