„Wie ein Kurzurlaub“: Was uns an Märchen fasziniert
München – Es war einmal eine Mutter, die konnte ihren sehr lebhaften Sohn am allerbesten beruhigen, wenn sie ihm mit sanfter Stimme ein Märchen nach dem anderen erzählte – so beginnt die Geschichte von Astrid Brüggemann. Die 45-jährige Münchnerin studierte Germanistik, Ethnologie und Mediävistik, besuchte Märchenseminare und machte eine Ausbildung zur Geschichtenerzählerin. Seit 1993 erzählt sie hauptberuflich Märchen und ist mittlerweile Vorstand des Münchner Erzählvereins „Wortschatz“.
„Beim Erzählen kommt es nicht auf die Ausbildung an“, sagt Brüggemann – zumindest nicht auf die, die man in Seminaren lernt. „Der beste Ausbilder beim Märchenerzählen ist das Publikum.“ Denn durch die Interaktion lernt man, was ankommt. Natürlich gehören auch äußere Faktoren dazu: Atemtechnik, Gestik, Mimik, Bühnenpräsenz, die richtige Sprechtechnik und Stimmbildung. Aber wenn Brüggemann beginnt, eine Geschichte zu erzählen, dann macht man sich darüber keine Gedanken: Ihre Stimme erzeugt einen Sog, dem man sich schwer entziehen kann. Wenn es spannend wird, erhöht sie das Tempo und schafft es, jedem einzelnen Protagonisten einen eigenen Charakter zu geben.
Wenn sie Fremden von ihrem Beruf erzählt, stellt sie immer wieder fest, dass vor allem Erwachsene mit großer Neugier reagieren: „Weil sie es im Grunde vermissen, Geschichten erzählt zu bekommen.“ Aber auch Auftritte für Kinder haben ihren Reiz: „Kinder sind ehrlicher. Wenn sie unruhig werden, muss ich sofort schauen, dass ich die Aufmerksamkeit wieder auf mich lenke.“
Gebucht wird Brüggemann auf privaten oder Unternehmensfeiern, aber auch in der Villa Stuck oder der Seidlvilla erzählt sie Märchen aus aller Welt, Mythen oder bajuwarische Sagen. Auf vielen Hochzeiten war sie schon – und auf Scheidungsfeiern. „Da erzähle ich dann Geschichten, die erklären, warum Verbindungen nicht funktionieren. Im Märchen ist es häufig so, dass einer der Partner aus einer anderen Welt stammt oder ursprünglich ein Tier ist, das sich in einen Menschen verwandelt. Die beiden Welten haben einen Berührungspunkt, sind aber nicht immer kompatibel.“
Beliebter sind natürlich die Geschichten mit dem klassischen Happy End. Auch, weil sie Trost spenden. Das Geschichtenerzählen sei neben Musik und Tanz die Kulturtechnik, die die Menschheit schon seit Anbeginn begleitet, erklärt Brüggemann. Früher war es Informationstechnologie, heute ist es „Wellness für die Seele“. Das könne man sogar messen: „Wenn man eine Geschichte gut erzählt bekommt, gelangt das Gehirn in einen anderen Bewusstseinszustand, den Alpha-Bereich. Man ist unheimlich entspannt und hat danach das Gefühl, auf einem Kurzurlaub gewesen zu sein.“
Über 150 Märchen kann Brüggemann erzählen, ohne nachlesen zu müssen. Viele von den Brüdern Grimm. Zur Frühlingszeit mag sie „Jorinde und Joringel“ besonders gerne. Die Geschichte des jungen Liebespaars, das durch eine Zauberin getrennt wird und nach vielen Hindernissen wieder zueinanderfindet, wurde vom Maler Philipp Otto Runge aufgeschrieben und ist mit bunten Blumen und Singvögeln sehr bildhaft.
Dass man aus Märchen auch heute noch etwas lernen kann, davon ist Astrid Brüggemann überzeugt. Etwa das Urvertrauen, von denen die klassischen Zaubermärchen leben: Die Helden kriegen Steine in den Weg gelegt, geben aber trotzdem nie auf und erreichen ihr Ziel. „Die Themen haben sich im Grunde nicht geändert: Es geht um Werte, um innere Haltungen und den Entwicklungsweg in der Spanne zwischen Geburt und Tod.“
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