"Wer ist der größte Vaterlandsverräter?": Wie Hubert Aiwanger dem politischen Sturm trotzte

München – Bei einem landespolitischen Rückblick steht eine Landtagswahl naturgemäß im Mittelpunkt. Noch im Frühjahr drohte der Urnengang am 7. Oktober eine ziemlich langweilige Angelegenheit zu werden. Die bisherigen Regierungsparteien CSU und Freie Wähler (FW) gaben sich frühzeitig einander das Versprechen, ihre "Bayern-Koalition" fortsetzen zu wollen. Im Endergebnis kam es dazu auch, aber bis dahin war einiges an Turbulenzen geboten.
Die politischen Unregelmäßigkeiten begannen im Juni mit einer Rede von FW-Parteichef und Vizeministerpräsident Hubert Aiwanger auf einer Demonstration gegen das "Heizungsgesetz" in Erding. "Die schweigende Mehrheit", wetterte Aiwanger müsse sich aus Berlin die "Demokratie zurückholen". Ein erster Aiwanger-Schock durchfuhr den Freistaat und auch den Koalitionspartner CSU. Die Äußerung "entspricht nicht meiner Haltung", ließ Söder wissen.
Paukenschlag vor der Landtagswahl in Bayern: Ein Flugblatt bringt Hubert Aiwanger in Erklärungsnot
Der laute Paukenschlag, auf neudeutsch "Gamechanger", wurde dann Ende August von der "Süddeutschen Zeitung" gesetzt. Das Blatt berichtete über ein übles neonazistisches und antisemitisches Flugblatt, das Ende der 80-er Jahre in der Schultasche des Gymnasiasten Hubert Aiwanger gefunden wurde und zum Wettbewerb "Wer ist der größte Vaterlandsverräter?" aufrief.
Sein Bruder Helmut habe das Flugblatt verfasst, zog sich der Minister Aiwanger aus der Affäre, doch massive Restzweifel blieben, zumal er am Gymnasium Mallerdorf dafür mit einer Strafe belegt wurde und Bruder Helmut in der Sache wortkarg blieb. Bei Markus Söder und seiner CSU schrillten sämtliche Alarmglocken: Hatte man einem verkappten Neonazi die Koalition versprochen?
Markus Söder lässt Aiwanger im Amt – Freie Wähler legen Landtagswahl deutlich zu
Söder ließ seinem Vize 25 Fragen zu der Affäre zukommen, die dieser eher lustlos als erhellend beantwortete. An der geforderten "Demut" ließ es Aiwanger auch weiterhin fehlen. Dennoch akzeptierte Söder die Erklärungen seines Vizes notgedrungen und entließ ihn nicht. Die Alternative wäre eine Koalition mit den ungeliebten Grünen gewesen, und das wollten in der CSU die Wenigsten. Freilich hielt man dem CSU-Chef vor, sich zu frühzeitig auf die Koalition mit der Aiwanger-Partei festgelegt zu haben, wodurch dieser einen Freibrief für populistische Ausflüge erhalten habe.
Fortan knirschte es im Koalitionsgebälk vernehmlich. Aiwanger beklagte sich seinerseits über eine gegen ihn geführte Medienkampagne und über "Demütigungen" durch den großen Koalitionspartner, insbesondere dessen Chef. Im Endeffekt ging Aiwangers Strategie, sich als Opfer einer Kampagne zu präsentieren, auf. Seine Partei wurde bei mit einem Zugewinn von 4,2 Prozentpunkten zweitstärkste Kraft im neuen Landesparlament während die CSU leicht um 0,2 Prozentpunkte verlor und auf 37 Prozent kam. Das enttäuschende CSU-Ergebnis erklärte Söder mit dem "Sondereffekt" des Aiwanger-Flugblatts, wodurch die FW-Anhänger mobilisiert worden seien.
In Rekordzeit zum Koalitionsvertrag: CSU und Freie Wähler setzen Zusammenarbeit fort
Die Grünen büßten 3,2 Prozent ein und wurden mit 14,4 nur noch viertstärkste Kraft im Landtag. Am schlimmsten erwischte es die FDP, die an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte und das Landesparlament verlassen musste.
Gleichwohl nahmen CSU und FW sofort Kurs auf eine Erneuerung der "Bayern-Koalition" und versprachen sich gegenseitige Achtung, Demut und – in einer Präambel – die strikte Einhaltung demokratischer Grundprinzipien. Weil die Parteien inhaltlich wenig trennt, kamen sie in Rekordzeit zum Koalitionsvertrag, dessen Kurs eher von einem "Weiter so" gekennzeichnet ist.
Auch beim Kabinett gab es relativ wenig Veränderungen. Das Ressort Digitales ging an die FW, die wegen ihres Wahlerfolgs unbedingt einen vierten Ministerposten verlangten. Nicht dem neuen Kabinett gehören der bisherige Kultusminister Michael Piazolo (FW), Europaministerin Melanie Huml (CSU) und Wirtschaftsstaatsekretär Roland Weigert (FW) an.
Per Haftbefehl gesucht: AfD-Politiker Daniel Halemba sorgt für einen handfesten Skandal
Damit waren die Turbulenzen um die bayerische Landtagswahl 2023 aber längst noch nicht beendet. Am 30. Oktober, dem Tag der Konstituierung des Landtags, sollte neben dem Alterspräsidenten auch der AfD-Abgeordnete Daniel Halemba (22) als jüngster Abgeordneter die Sitzung eröffnen. Doch dazu kam es nicht: Halemba wurde mit Haftbefehl gesucht und war am Tage der Parlamentseröffnung unauffindbar. Vorwurf: Verwendung des Kennzeichens verfassungswidriger Organbisationen. Als Halembas Haftbwefehl außer Vollzug gesetzt wurde, tauchte der Würzburger Corpsstudent im Parlament auf – ein bislang einmaliger Vorgang in der bayerischen Parlamentsgeschichte.
Der Fall Halemba warf ein Schlaglicht auf die deutlich nach rechts gerückte AfD-Landtagstruppe, die sich bei der Wahl um 4,4 Prozentpunkte auf 14,7 Prozent verbesserte und damit zur größten Oppositionsfraktion wurde. Im Dezember verlangte der AfD-Bundesvorstand die Entfernung Halembas aus der Partei, woraufhin der 22-Jährige alle Parteiämter abgab und die Mitgliedsrechte ruhen ließ. Sein Landtagsmandat behielt er aber. Fortsetzung der Geschichte folgt im neuen Jahr.
Stammstrecken-Debakel in München: Die Staatsregierung ist sich keiner Schuld bewusst
Freilich waren im Freistaat im vergangenen Jahr noch mehr geboten als Flugblatt- und Extremismus-Affären. Nach der Landtagswahl ordneten fast alle Parteien ihre Spitzen neu. Bei der SPD blieb Florian von Brunn trotz des enttäuschenden Ergebnisses von 8,6 Prozent Chef der Landtagsfraktion. Die Grünen verabschiedeten sich von der Doppelspitze und wählten Katharina Schulze zur alleinigen Fraktionschefin, und bei der CSU übernahm der bisherige Gesundheitsminister Klaus Holetschek den Fraktionsvorsitz, nachdem Vorgänger Thomas Kreuzer aus dem Landtag ausgeschieden war. Bei der AfD wurde die als Rechtauslegerin geltende Katrin Ebner-Steiner zur Fraktionsvorsitzenden bestimmt. Die nunmehr außerparlamentarische bayerische FDP entschied sich für eine Doppelspitze, bestehend aus dem bisherigen Partei- und Fraktionschef Martin Hagen und der Bundespolitikerin Katja Hessel.
Vor der Auflösung des vorigen Landtags lieferten noch die Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zur zweiten Münchener S-Bahn-Stammstrecke, zum Nürnberger Zukunftsmuseum und zur Masken-Affäre ihre umfänglichen Abschlussberichte ab. In keinem Fall konnten sich Regierungsfraktionen und Opposition auf einen gemeinsamen Bericht einigen – nichts Unübliches im parteipolitischen Geschäft: Die Regierungsseite sah in keinem Fall Fehler bei der Exekutive, die Oppositionsseite durchaus.
Tandlers Maskenaffäre, Schneechaos und Flüchtlingskrise: Unruhiges Politik-Jahr in Bayern
Die Masken-Affäre erfuhr in der zweiten Jahreshälfte noch eine Fortsetzung am Landgericht München, wo sich Politiker-Tochter Andrea Tandler wegen Steuerhinterziehung in Millionenhöhe verantworten musste. Sie hatte durch die Vermittlung von Atemschutzmasken zwar 48 Millionen Euro eingenommen, war aber einen knapp zweistelligen Millionenbetrag dem Fiskus schuldig geblieben. Nach einem Deal zwischen den Prozessbeteiligten warf das Gericht eine Strafe von vier Jahren und fünf Monaten wegen Steuerdelikten aus. Dass sie Provisionen in Millionenhöhe kassiert hatte, sei ihr allerdings nicht vorzuwerfen, betonte das Gericht.
Verkehrsprobleme begleiteten den Freistaat auch in diesem Jahr. Richtig akut wurde es zu Beginn des Dezembers, als ein Wintereinbruch in weiten Teilen Südbayerns so gut wie alles lahm legte – als erstes den Zugverkehr. Weil auch zwei Wochen später noch nicht alle Züge fahrplanmäßig rollten, wurde aus Öffentlichkeit und Politik massive Kritik an der Bahn laut.
Die zunehmende Zahl an Flüchtlingen drohte viele Kommunen zu überfordern. Die Staatsregierung reagierte darauf unter anderem mit dem Beschluss, für Asylbewerber ein Bezahlkartensystem einzuführen, um "Pull-Effekte" zu reduzieren.
Gender-Verbot in Bayern? Markus Söder setzt den Schlusspunkt unter ein bewegtes Jahr
Im kommenden Jahr wird sich das Bundesverfassungsgericht mit einigen Klagen aus Bayern befassen müssen. Immer noch liegt in Karlsruhe die Klage gegen das neue Bundestags-Wahlrecht, das in bestimmten Fällen zum Ausschluss der CSU aus dem Bundestag führen könnte. Daneben klagt der Freistaat gegen das geltende System des Länderfinanzausgleichs, weil die Belastungen für Bayern sich allmählich der Zehn-Milliarden-Euro-Marke nähern. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof erklärte im zurückliegenden Jahr ein Rad-Volksbegehren für den Freistaat für unzulässig.
In seiner ersten Regierungserklärung in der neuen Legislaturperiode gelang es Regierungschef Söder, doch noch einen "Aufreger" zu setzen. Er kündigte ein Gender-Verbot für alle bayerischen Behörden und Schulen an. Schrägstrich, Unterstrich, Sternchen und großes Binnen-"I" haben in amtlichen bayerischen Schreiben also nichts zu suchen.