Wenn Schutzengel frieren

Irene Gatterbauer (70) ist Schülerlotsin mit Leib und Seele. Kinder und Eltern in Giesing schätzen ihr fröhliches Wesen. Nur wenige wissen von den Existenz-Sorgen der Rentnerin
Abendzeitung |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Irene Gatterbauer im Einsatz: Sie hilft dem siebenjährigen Daniel über die Straße.
Vermittlung historischer Immobilien oHG Irene Gatterbauer im Einsatz: Sie hilft dem siebenjährigen Daniel über die Straße.

MÜNCHEN - Irene Gatterbauer (70) ist Schülerlotsin mit Leib und Seele. Kinder und Eltern in Giesing schätzen ihr fröhliches Wesen. Nur wenige wissen von den Existenz-Sorgen der Rentnerin

Irene Gatterbauer ist eine Giesinger Institution. Seit Jahren steht sie im neongelben Schülerlotsen-Dress an der Werinherstraße und hilft den Kindern des Viertels über die Fahrbahn. Bei 38 Grad im Schatten, Sturm oder Schnee – Irene Gatterbauer ist immer für ihre Schützlinge da. Was kaum einer weiß: Die Stiefel, in denen die 70-Jährige vor der „Königin des Friedens“- Kirche auf- und abstapft, haben Löcher. Ihre Besitzerin hat ständig nasse Füße. Doch für neue Schuhe fehlt der Rentnerin das Geld.

Irene Gatterbauer wurde in Mittweida geboren, als Achtjährige zog sie mit dem Vater nach Bayern, seit ihrem 23. Lebensjahr wohnt sie in München. Sie hat gearbeitet, seitdem sie denken kann: Erst auf dem Hof der Familie in Eching, später in verschiedenen Gasthäusern, zuletzt bei Karstadt in der Kantine. Doch dann erkrankte Irene Gatterbauer an Brustkrebs. „Seitdem bin ich zu 60 Prozent schwerbehindert“, erzählt sie. „Deshalb war es möglich, schon mit 60 in Rente zu gehen.“

Viel verdient hat die Münchnerin nie. Nicht auf dem Bauernhof der Verwandtschaft, nicht als ungelernte Kraft im Kaufhaus, nicht in der Gastronomie. „Damals in den Wirtschaften, da hat man ja drin geschlafen und gegessen – das ist doch alles mitangerechnet worden.“ Die lebenslustige Frau, übrigens eine glühende Verehrerin der Klitschko-Brüder, war trotzdem zufrieden.

Doch heute bleiben Irene Gatterbauer als Lohn für die lebenslange Schufterei gerade mal 786 Euro Rente. Karstadt unterstützt sie mit 78 Euro monatlich, hinzu kommen 25 Euro Grundsicherung. Wenn sie die Miete für ihre 35-Quadratmeter-Wohnung, alle Versicherungen und Nebenkosten gezahlt hat, bleiben ihr 8,50 Euro pro Tag. „Zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig“, sagt sie.

Doch Irene Gatterbauer ist keine, die aufgibt. Als sie in der Zeitung liest, dass in ihrem Viertel Schülerlotsen gesucht werden, meldet sie sich. In der Zwischenzeit spricht sie ganz selbstverständlich von der Giesinger „Gatterbauer- Kreuzung“, alle Kinder und alle Hunde, die hier vorbeikommen, kennt sie beim Namen. Und die 100-Jährige aus der Nachbarschaft, die jeden Tag zum Mittagessen im Altenheim auf der anderen Straßenseite geht, begleitet sie natürlich auch. „Ich liebe es“, schwärmt Irene Gatterbauer von ihrem ehrenamtlichen Engagement.

Dass sie als Schulweghelferin eine kleine Aufwandsentschädigung erhält, ist ein zusätzlicher Ansporn. In guten Zeiten gönnt sich Irene Gatterbauer davon eine Creme für ihr Sonntags-Ritual. Es ist der einzige Luxus, den sich die allein stehende Frau leistet – wenn sie kann: „Da wird der ganze Körper gepflegt, dann koch’ ich mir was, schau’ anschließend die Messe im Fernsehen an und halte dann meinen Schönheitsschlaf. Schau’n Sie mich an: Deswegen hab’ ich so wenige Falten.“ Sie lächelt keck. Tatsächlich sieht man der Seniorin ihre 70 Lenze nicht an.

Aber es gibt auch schlechte Zeiten. Die großen Ferien zum Beispiel, wenn keine Schüler unterwegs sind und die Aufwandsentschädigung ausbleibt. „Im Sommer vor zwei Jahren hab’ ich nichts mehr zum Essen gehabt“, erzählt Irene Gatterbauer leise. „Das war eine der Situationen, da hab’ ich schon überlegt, wo wohl die nächste U-Bahn langfährt.“ Sie ist ihr Leben leid – und reißt sich dennoch zusammen. „In solchen Momenten hilft mir mein Glauben.“

Irene Gatterbauer rafft sich auf und geht zum ersten Mal zur Münchner Tafel. „Am Anfang war das ganz schlimm für mich. Ich hab’ 46 Jahre gearbeitet – und dann stand ich da.“ Mittlerweile kommt sie jeden Mittwoch zur Essensausgabe. Sie hat sich mit einigen Helferinnen angefreundet und ist ganz aus dem Häuschen, wenn die Ehefrau von Paul Breitner dort aushilft. „Dann fachsimpeln wir über den FC Bayern.“ Den mag die Rentnerin nämlich genau so gern wie die Klitschkos.

Manchmal allerdings schlägt das Schicksal auch außerhalb der Schulferien zu. So wie jetzt. „Ich hab’ eine neue Brille gebraucht, weil ich mit der alten nicht mehr richtig sehen konnte. Weil die Kasse die nicht zahlt, hab’ ich diesen Monat überhaupt kein Geld mehr.“ Ausgerechnet jetzt, wo es draußen kalt wird. Ausgerechnet jetzt, wo Irene Gatterbauer warme Unterwäsche, Handschuhe und einen Schal für ihren Lotsen-Dienst bräuchte. Ausgerechnet jetzt, wo ihre Stiefel sich langsam auflösen.

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.