So war München-Haidhausen vor 50 Jahren: "Wenn ich durch die Straßen gehe, liebe ich alles"

"So ringsrum menschlich gibt es in München nur einen Platz": Wie das bodenständige Haidhausen des Jahres 1974 eine AZ-Leserin begeisterte ‒ und warum viele andere genervt von der Stadt waren.
von  Felix Müller
Haidhauser Gemütlichkeit in den 70er Jahren: Das Café Kriechbaum in der Weißenburger Straße galt als Institution.
Haidhauser Gemütlichkeit in den 70er Jahren: Das Café Kriechbaum in der Weißenburger Straße galt als Institution. © Sabine Jörg

Haidhausen —  Die Mieten sind zu hoch, die Nachbarn unfreundlich, die Lebenshaltungskosten eh zu teuer, es gibt zu viel Lärm und die Luft ist auch noch schmutzig. Das sind keine Thesen aus Kommentaren in Sozialen Medien oder von Stüberl-Stammtischen im Jahr 2024. Es stand am 1. August 1974, vor 50 Jahren, so in der AZ.

Stadtteil Haidhausen-München 1974: "Gewiss ist es in Millionärsvierteln vornehmer, aber..."

Dabei sollte es an jenem Tag im München-Teil der Abendzeitung eben nicht ums Gegrantel gehen, dass alles nicht mehr so schön sei wie früher. Im Gegenteil: Die Lokalredaktion hatte viel Zeitungsplatz reserviert für AZ-Leserin Ida Emmerdinger und ihre "Liebeserklärung an Haidhausen", mit der sie sich bei den Haidhausern bedanken wollte.

AZ-Leserin Ida Emmerdinger im Jahr 1974.
AZ-Leserin Ida Emmerdinger im Jahr 1974. © AZ-Archiv

Ihr Brief ist heute auch ein Stück Münchner Zeitgeschichte, wer die heute so reichen und rausgeputzten Straßen eines der allerteuersten Viertel der Stadt kennt, kann sich kaum vorstellen, wie anders die Lebenswelt jener Jahre im Viertel gewesen ist.

"Gewiss ist es in Grünwald und allen Millionärsvierteln vornehmer zu wohnen, aber so ringsrum menschlich gibt es nur einen Platz: Haidhausen", schwärmt sie. "Vor einem Jahr zogen mein Mann und ich in die Nähe des lebendigen Pariser Platzes. Als ich am zweiten Tag zum Einkaufen ging, grüßten schon freundlich die Bewohner des Altenheims, überhaupt in jedem Geschäft freundlichste Bedienung."

Schon nach vier Wochen sei sie zu Hause im Viertel gewesen, auch die damals sogenannten "Gastarbeiter" gehörten hier dazu, betont sie. "Wenn ich durch die Straßen gehe, liebe ich alles. Die schönen Häuser, die wunderbaren Geschäfte, die Bazis, die Wastl, die Hexen, Dackel, Pudel, Spitze und die wunderbaren Mischlinge".

Beim Friseur sei man hier noch König, "und die persönliche Bedienung: Wenn ich etwas in einem Geschäft nicht bekomme, schickt man mich mit einer Empfehlung zur Konkurrenz." Wichtig ist ihr, zu betonen, dass es in Haidhausen nicht nur um Konsum geht ‒ sondern auch um "echten menschlichen Kontakt". Man bilde "eine große Familie. Wo gibt es das noch?"

Manches mag den Haidhausern von heute gänzlich absurd vorkommen ‒ wie Emmerdingers Begeisterung über "diese reellen Preise!" im Viertel. Anderes aber unterschreiben die Liebhaber des Franzosenviertels sicher auch heute noch. "Wir haben alles hier", schrieb die AZ-Leserin 1974, "Metzger, Bäcker, alles was man braucht auf kleinem Raum." Lässig-selbstbewusst betonte sie gar: "Wir haben die Stadt überhaupt nicht nötig."

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