Was AZ-Redakteure im Nachtzug erlebt haben

Klassenfahrt nach Berlin durch die DDR, Raucher-Partys im Fahrradabteil, Züge mit Sowjet-Charme und schlaflose Nächte wegen stinkender Füße. AZ-Redakteure erinnern sich an ihre Nachtzug-Erlebnisse.
von  az
Die große Zeit der Nachtzüge mag vorbei sein. Ein bisschen Zukunft gibt es aber.
Die große Zeit der Nachtzüge mag vorbei sein. Ein bisschen Zukunft gibt es aber. © imago

Klassenfahrt nach Berlin durch die DDR, Raucher-Partys im Fahrradabteil, Züge mit Sowjet-Charme  und schlaflose Nächte wegen stinkender Füße. AZ-Redakteure erinnern sich an ihre Nachtzug-Erlebnisse.

München - Die Bahn hat zunehmend Nachtverbindungen gestrichen. Doch dank der Österreichischen Bahn rollen die Nachtzüge weiter. Hier erinnern sich AZ-Redakteure an ihre Erlebnisse in den Schlafwagen.

Samt, Sowjet-Charme und Spiegelsaal-Unendlichkeit

Egal, ob es nach Venedig ging oder nach Budapest: Eine Reise mit dem Nachtzug hatte für mich immer etwas Magisches. Als Jugendliche bin ich oft so gereist, mein schönstes Erlebnis mit dem Nachtzug liegt aber tatsächlich erst ein paar Monate zurück. Wir waren in Georgien unterwegs, ein eigentlich kleines Land mit schlechten Straßen, der Nachtzug von Tbilisi nach Zugdigi (330 km) sollte uns Zeit sparen.

Um uns etwas zu gönnen, buchten wir die erste Klasse. Was wir nicht wussten: Wir buchten gleichzeitig eine Zeitreise. Es war wunderbar: Die Waggons stammten noch aus Zeiten der Sowjetunion, überall russische Schriftzeichen, kleine Piktogramme, die anzugtragende Zugbegleiter darstellen sollten (die tatsächliche hatte zu ihren hohen Hacken und der engen Bluse einen strengen Blick aufgesetzt).

Und: Samt. Roter Samt. Damit waren die Betten bezogen. Ein Traum. Dazu ovale Spiegel an beiden Wänden, die wie in einem Spiegelsaal die Illusion von Unendlichkeit erzeugten.

In diesem Setting zuckelten wir durch die Nacht. Man schlief erstaunlich gut, der Zug fuhr sehr langsam.

Nur eins war unangenehm: Morgens um fünf klackerte die Zugbegleiterin mit ihren künstlichen Fingernägeln an die Tür, um uns zu wecken. Ein gruseliges Geräusch. Andererseits: Es passte irgendwie auch.

Sophie Anfang

Klein Franz Josef wird von DDR-Grenztruppen abgeführt

Stacheldraht, Zäune und Grenzsoldaten mit Kalaschnikow: Die Fahrt nachts im Zug nach Berlin war mal ein echtes Abenteuer – früher, in den Achtzigerjahren. Abschlussfahrt nach dem Abi. 60 Schüler und vier Lehrer dösen im Liegewagen. Irgendwann nach Mitternacht erreichen wird die deutsch-deutsche Grenze. DDR-Soldaten gehen von Abteil zu Abteil und kontrollieren.

Schlaftrunken kramen wir unsere Reisepässe raus. Auch unser kleiner Franz Josef Strauß. Den Spitznamen hat er weg, weil er im Trachtenjanker herumläuft, spricht wie der Ministerpräsident und auch immer alles besser weiß. Franz Josef reicht dem Grenzer seinen Ausweis, dabei plumpst seine Tasche vom Sitz und ein Stapel Aufkleber rutscht raus.

„Die Mauer muss weg“, steht drauf. Der Grenzer ahnt sofort: Vor ihm sitzt der Klassenfeind, ein Konterrevolutionär. Höflich bittet er Franz Josef, mitzukommen. Der gerät in Panik. „Die verschleppen mich, helft mir!“, schreit er. Die Soldaten nehmen ihn in die Mitte und führen ihn ab. „Informiert die Botschaft!“, fleht er uns an. „Das heißt ‘Ständige Vertretung’, nicht Botschaft, Franz Josef“, korrigiert ihn einer von uns und grinst.

Kurz vor Abfahrt sitzt Franz Josef wieder bei uns im Zug. Seine Aufkleber sind zwar weg. Dafür ist aber sein Selbstbewusstsein wieder da – sehr zu unserem Leidwesen.

Ralph Hub


Ostseeluft und Rauch

Reisen in Europa: In alten Erzählungen klang das nach Abenteuer. In der Realität der Nullerjahre war es das natürlich nicht mehr. Mit der Ausnahme Nachtzug: Das Sparnight-Angebot kenne ich immer noch. Sitzplatz 29 Euro, Sechser-Liegewagen 39 Euro, Vierer-Liegewagen 49 Euro, oft noch kurz vor Abfahrt erhältlich. Als Student also: 29 Euro, Sitzwagen, Gespräche mit Flugängstlichen und Austausch-Studenten, morgens beim Aussteigen: Rückenschmerzen.

Das Nachtzugfahren war völlig aus der Zeit gefallen – und großartig. Absurd lange Fahrtzeiten durch unerklärlich lange nächtliche Aufenthalte in Orten wie Fulda. Schaffner, die Zeit hatten. Fenster, die man öffnen durfte, um die Nase bei der Fahrt an der Ostsee entlang in die Nacht zu strecken. Wunderbar. Und, natürlich: Rauchen. Dass man noch um 2005 von Kopenhagen (19 Uhr) bis München (9 Uhr) in einem Sechser-Abteil mit sechs Rauchern fröhlich durch die Nacht qualmte, ist kaum noch vorstellbar.

Später – das Rauchen war eigentlich schon verboten – empfahlen Schaffner des Nachts, im Radabteil zu qualmen (wo dann, wie auf Partys in der Küche, die besten Gespräche stattfanden). Einmal kippte ein gutgelaunter Bahn-Mann mitten in der Nacht das Rauchverbot im Bordbistro und verteilte Aschenbecher. Es wurde eine sehr sehr gute, sehr sehr lange Party. Mitten in der Nacht auf der quietschenden, wackeligen Reise zurück nach München.

Felix Müller

Reise-Verletzlichkeit

In einem Nachtzug macht man sich auf so viele Arten verletzlich. Man ist in der Regel gekommen, um zu schlafen, was ja einer der sensibelsten Zustände ist, in dem man sich befinden kann (vielleicht sogar noch vor dem Zustand, zu seinem Lieblingsverein zu stehen, wenn der 1860 München heißt). Man trägt Kleidung, die eigentlich nicht jeder sehen sollte. Man sieht kurz nach dem Aufwachen so aus, wie einen nur die herznächsten Menschen erblicken sollten. Und man ist schutzlos noch etwas ausgesetzt: Gerüchen.

Niemals werde ich die fremden Füße im Nachtzug nach Amsterdam vergessen, die mich länger wachgehalten haben, als jede noch so unglückliche Liebe in meinem Leben. Andererseits ist diese Reise-Verletzlichkeit auch etwas Wunderschönes, denn sie macht alle Menschen einander so rührend ähnlich. Der frühe Morgen meines 30. Geburtstags im Nachtzug durch Thailand wird mich für immer begleiten: Die Zahnbürste in der Hosentasche, die Haare noch im Kopfkissen-Modus, schlurfte ich zum Ende des Zuges zum Waschbecken.

Im Zwischenabteil auf dem Weg dorthin lag ein Federbettenhaufen, der plötzlich zu wanken begann. Ihm entstieg: der Zugbegleiter, der am Vorabend noch sehr missgünstig aus seiner Uniform geschaut hatte. Seine Haare in diesem Moment: definitiv noch im Kopfkissen-Modus. Er lächelte nicht. Ich lächelte nicht. Wir verstanden uns.

Anja Perkuhn

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