Weshalb Menschen in München zu Weihnachten stark leiden: "Führt einem die Einsamkeit vor Augen"

Geschätzt 10 bis 20 Prozent aller Menschen in Deutschland sind chronisch einsam, gerade an Weihnachten. Das hat gravierende Folgen für die Gesellschaft. Verschiedene Initiativen in München bieten Anlaufstellen. Wohin sich einsame Menschen nun wenden können.
Bernhard Hiergeist |
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Einsamkeit ist ein großes gesellschaftliches Problem. An Weihnachten rückt sie besonders in den Fokus.
Einsamkeit ist ein großes gesellschaftliches Problem. An Weihnachten rückt sie besonders in den Fokus. © imago/Frank Sorge

München - In der Wissenschaft ist es bekannt als das Gefühl, das sich einstellt, wenn Menschen ihre sozialen Beziehung als qualitativ oder quantitativ unzureichend erleben. Das klingt etwas sperrig, dabei dürfte es jeder und jede schon einmal gespürt haben. Mit einem Wort: Einsamkeit. 

Es gibt sie das ganze Jahr über, immer sind Menschen einsam. Aufgrund von Umfragen und Langzeitstudien wie etwa dem "Sozio-ökonomischen Panel" des Deutschen Instituts für Wirtschaft schätzen Forscher: Etwa 10 bis 20 Prozent aller Menschen in Deutschland sind von chronischer Einsamkeit betroffen. 

Einsamkeit an Weihnachten: Expertin aus München erklärt, warum dies besonders schlimm ist

Das heißt, die Einsamkeit geht nicht vorüber, das Gefühl verlässt die Betroffenen überhaupt nicht mehr. Das kann gravierende Folgen für eine Gesellschaft haben, wie etwa bei einer Sitzung im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Bundestags diskutiert wurde: gesundheitlich (Einsamkeit senkt die Lebenserwartung), finanziell (wegen etwaiger Behandlungskosten) und politisch – Studien haben bereits aufgezeigt, dass einsame Menschen weniger politisch partizipieren, zum Beispiel seltener zu Wahlen gehen.

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Ein großes gesellschaftliches Problem, und eines, das gegen Jahresende noch einmal besonders in den Fokus rückt, wie Sybille Loew von der "Münchner Insel" beschreiben kann. Dabei handelt es sich um eine Einrichtung zur Krisen- und Lebensberatung, die die katholische und evangelische Kirche gemeinsam betreiben. In der Beratungsstelle unter dem Marienplatz kann man mit oder ohne Termin das Gespräch mit einem Team aus Psychologen, Theologen oder Sozialpädagogen suchen.

Die Beratungsstelle der Münchner Insel unter dem Marienplatz in München.
Die Beratungsstelle der Münchner Insel unter dem Marienplatz in München. © Münchner Insel

Gerade zum Jahresende werden laut Loew Menschen besonders damit konfrontiert, dass andere glücklich sind: Man sieht in den Läden oder auf den Christkindlmärkten Paare in Zweisamkeit, Familien, Freundes- oder Kollegengruppen lachen und Späße treiben. "Man erlebt die Menschen viel mehr zusammen", sagt Loew im Gespräch mit der AZ. "Und das Glück der anderen führt einem die eigene Einsamkeit besonders vor Augen."

Objektiv allein oder einsam?

"Das kann furchtbar sein", sagt Loew. "Jeder hat jemanden, und ich stapf‘ allein durch den Schnee: Man kann das auch als Kränkung empfinden." Wiederum können andere gut damit umgehen. Einsamkeit ist eben nicht gleich Einsamkeit ist nicht gleich soziale Isolation, wie das die Sozialwissenschaften bezeichnen. Objektiv sozial isoliert leben 2022 in Deutschland zum Beispiel die Menschen aus den 16 Millionen Single-Haushalten. Jeder Fünfte lebt heute allein. 1950 war es noch einer von 17, wie das Statistische Bundesamt ermittelt hat. 

In Deutschland gibt es immer mehr Ein-Personen-Haushalte.
In Deutschland gibt es immer mehr Ein-Personen-Haushalte. © Statistisches Bundesamt

Die Art und Weise, wie Menschen leben, lieben und arbeiten, hat sich verändert. Und sicherlich ist nicht automatisch einsam, wer allein wohnt. Es sei wichtig, "Einsamkeit vom Alleinsein zu unterscheiden", erklärt etwa der Einsamkeitsforscher Marcus Mund von der Universität Jena in einem Interview. Es gebe Menschen, die nur wenige soziale Kontakte pflegten und trotzdem nicht einsam seien. "Wie einsam sich Menschen fühlen, ist sogar sehr oft Typsache", sagt Mund.

Und manch einer fühlte sich selbst in einer Gruppe einsam und leide darunter, sagt Sybille Loew von der Münchner Insel. Man müsse sich immer die individuelle Situation eines Menschen ansehen.

Nicht jede Lösung funktioniert für alle Einsamen gleich gut

Senioren zum Beispiel haben manchmal damit zu kämpfen, dass Familienmitglieder oder Freunde gestorben sind oder die Kinder weit weg wohnen. Dann könne zum Beispiel in München ein Besuch bei einem der Alten-Servicezentren der Stadt helfen. Andere wiederum haben wenig Geld und können dort den günstigen Mittagstisch in Anspruch nehmen. "Manchmal hat Einsamkeit ja auch damit zu tun, dass sich jemand eben nicht leisten kann, ins Restaurant oder ins Kino zu gehen", sagt Loew.

Jüngere haben vielleicht nach einer Trennung einen Freundeskreis verloren oder sind wegen eines Jobs in eine neue Stadt gezogen. Diese fänden eher bei Nachbarschaftstreffs oder auf dem Onlineangebot nebenan.de unkomplizierten Anschluss. Aber keine Lösung funktioniere für alle gleich gut. Nicht jeder mag sich gleich mit fremden Menschen an einen Tisch setzen. "Man muss jemanden immer in seiner Individualität nehmen," sagt Loew.

Sybille Loew von der Münchner Insel.
Sybille Loew von der Münchner Insel. © Münchner Insel

Dauerhafte Betreuung ist bei der Münchner Insel nicht möglich

Kontakt knüpfen koste Überwindung und erfordere Mut. Und wenn die Angst vor Kontakt oder davor, verletzt zu werden, größer ist als die Einsamkeit? "Dann begeben wir uns auf die Suche nach den Ursachen, nach hilfreichen Ritualen und nach Möglichkeiten, die Trauer auszuhalten", sagt Loew. Ist die Einsamkeit chronisch und geht vielleicht sogar schon in eine Depression über, bemüht man sich bei der Insel, den Besuchern mit Kontakten weiterzuhelfen "Eine dauerhafte Begleitung, auch nur zum Reden, können wir nicht leisten", sagt Loew. "Sonst könnten wir nicht mehr für die Spontanbesuche da sein."

Einen anderen Ansatz verfolgt die Initiative "KeinerBleibtAllein" aus dem baden-württembergischen Mannheim. Auf einer Facebook-Seite und einem Instagram-Profil können sich Interessierte melden. "Den Vermittlungspart übernehmen wir", sagt Initiator Christian Klein im Gespräch mit der AZ. "Wir suchen dann jemanden in der Nähe in einem ähnlichen Alter, vielleicht sogar mit ähnlichen Interessen, und stellen den Kontakt her." Die meisten, die sich meldeten, suchten aufgrund von Umzug, Trennung oder den Tod von nahestehenden Personen wieder nach Anschluss.

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"In den Großstädten hat man einen gewissen Luxus, weil die Teilnehmerzahl höher ist", sagt Klein. Im ländlichen Raum, etwa im Süden Bayerns, sei es dagegen naturgemäß schwieriger, jemanden im direkten Umfeld zu vermitteln.

Insgesamt fünf ehrenamtliche Helfer sind bei "KeinerBleibtAllein" aktiv. Weil Klein einen Hintergrund in der IT hat, konnte er in der Bearbeitung der Nachrichten einiges technisch optimieren, sodass selbst mit nur einer Handvoll Helfern eine Vielzahl an Anfragen beantwortet werden kann: 2019 haben etwa 65.000 Menschen in ganz Deutschland mitgemacht, wie Fein schildert. Für das kommende Weihnachten gebe es zwar bislang nur etwa 14.000 Meldungen. Klein erwartet aber noch eine Steigerung. "Weihnachten kommt ja erst, da werden sich die eigentlichen Teilnehmenden jetzt allmählich erst melden."

Auch nach Weihnachten geht Einsamkeit weiter

Den Interessierten steht es jederzeit frei, die Vermittlungsvorschläge dann aber doch abzulehnen. "Wenn es nicht passt, versuchen wir eine Alternative vorzuschlagen", sagt Klein. Die Initiative versuche aber immer in Erinnerung zu rufen, den Kontakten erst einmal offen zu begegnen. "Das hat schon zu einigen sehr schönen Begegnungen geführt." Etwa im vergangenen Jahr, als eine Muslimin mit einem jüdisch-orthodoxen Pärchen zusammengebracht werden konnte, obwohl niemand von ihnen Weihnachten feierte.

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Dass an Weihnachten viele nicht gern allein sind, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Einsamkeit oder Probleme danach immer noch da sein können. In der Beratungsstelle sei Einsamkeit ein wichtiges Thema, erklärt Sybille Loew von der Münchner Insel, allerdings nicht ausschließlich. Besonders viel sei bei der Insel generell erst nach den Feiertagen los, sagt sie. "Das kann damit zusammenhängen, dass doch in etlichen Familien trotz aller Hoffnung dann das Weihnachtsfest nicht so geglückt ist, wie man es sich vielleicht vorgestellt hat." Gerade nach Weihnachten gibt es dann auch noch verstärkt Redebedarf.

Gegen die Einsamkeit: Möglichkeiten in München

Bei der Initiative "Zusammen aktiv bleiben" (ZAB e. V.) finden sich Gleichgesinnte zu verschiedensten Gruppen zusammen. Die "Seniorenbörse" ist eine Einrichtung des Vereins für Fraueninteressen und versteht sich als Informationsangebot, Begegnungsstätte und Drehscheibe für Kompetenzen. Das "Frauenforum" bietet einen Treffpunkt für Frauen.

Manche Initiativen haben über die Feiertage geschlossen, die Telefonseelsorgen des Erzbistums (0800 / 1110222 oder digital unter online.telefonseelsorge.de) oder des Evangelischen Beratungszentrums (0800 / 111 0 111) sind durchgängig erreichbar. Seniorinnen und Senioren, die montags bis freitags ein Gespräch suchen, können unter 089 / 189 100 26 die "Telefon-Engel" des gemeinnützigen Vereins Retla e. V. erreichen.

Die Initiative "KeinerBleibtAllein" vermittelt deutschlandweit nach Möglichkeit Kontakte, mit denen man an Heiligabend oder Silvester (oder wann anders) Zeit verbringen kann. Seit diesem Jahr leistet die Initiative auch Aufklärungsarbeit über Einsamkeit. Auf den Kanälen in den Sozialen Medien gibt es Tipps und Hilfestellungen für den Umgang mit von Einsamkeit betroffenen Menschen, Impulse und neue Erkenntnisse aus der Forschung.

Persönliche Beratung vor Ort (oder nach kurzem Anruf per geschützter Videosprechstunde) bietet die "Münchner Insel" im Sperrengeschoss am Marienplatz. Die Insel erteilt auch Empfehlungen für Feiern am Heiligen Abend. Und für den Zweiten Weihnachtsfeiertag gibt es das Angebot, sich an eine Kontaktperson vermitteln zu lassen. Die Insel ist bis Freitag, den 22. Dezember, um 18 Uhr geöffnet.

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  • Hausgeist am 25.12.2023 02:07 Uhr / Bewertung:

    Der Dieter holt bestimmt gleich seine Gitarre und kommt um seine Bürger wieder zusammen zu führen..
    Nachdem er gekuckt hat ob man nicht noch was nachverdichten kann an Wohnraum,damit auch garantiert keiner mehr seine Nachbarn kennt und der Steuersack immer schön voll ist.

  • Max Merkel am 24.12.2023 02:21 Uhr / Bewertung:

    Komisch, daß immer zu Weihnachten solche Themen aufkommen.

  • MadridistaMUC am 23.12.2023 20:38 Uhr / Bewertung:

    In die Kneipe. Da is immer gesellig.

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