Wallraff: "Tot sind wir lange genug"
MÜNCHEN - Seinen jüngsten Coup landete Günter Wallraff, als er sich in ein Callcenter einschleuste – und über die illegalen Tricks der Branche berichtete. Investigativ-Journalismus ist für ihn nicht bloß ein Wort. Mit der AZ hat Wallraff über sein neues Projekt gesprochen.
Auch im Alter von 65 schlüpft der Kölner weiter in neue Rollen, um skandalöse Arbeitsbedingungen aufzudecken. Sein neues Projekt: als "Sklave" in einer Fabrik.
AZ: Ist es Ihnen wieder gelungen, sich irgendwo einzuschleusen?
GÜNTER WALLRAFF: Ich hab’s tatsächlich wieder geschafft. Einen Monat lang habe ich in einer Fabrik gearbeitet. Dabei musste ich mich als knapp 50-Jähriger ausgeben, der durch Extremsport besonders belastbar ist – sonst hätte ich den Job gar nicht bekommen. Mehr will ich vor der Veröffentlichung am 1. Mai in der „Zeit“ nicht darüber erzählen.
Was haben Sie bei Ihrer Undercover- Ermittlung erlebt?
Wenn mir schon ein Vorgesetzter sagt, dass wir die modernen Sklaven sind, ist alles klar - oder? In der Fabrik wurden Menschenrechte verletzt – und die Arbeiter hatten Angst, ihre Rechte einzufordern. Ich hatte manchmal den Eindruck, ich bin in einem Straflager. Um uns herum waren nur Lärm, Hitze, Strapazen.
Wie weit gehen Sie bei Ihren Recherchen?
Wenn ich es erst einmal geschafft habe, irgendwo reinzukommen, wäre es schlimm, wenn ich sagen würde: Bis hier und nicht weiter. Aber viel länger als den Monat hätte ich es in dieser Fabrik nicht ausgehalten. Einmal hat mich ein ausländischer Kollege vor dem Zusammenbruch gerettet. Ich hatte die Arbeitsverletzungen, die alle haben. Aber keine bleibenden Verätzungen wie andere.
Sie sind 65 – warum tun Sie sich das noch an?
Es ist für mich eine Genugtuung zu sehen, dass ich mich als Vertreter der Schwachen nützlich machen kann. Ich will Brennpunkte sichtbar machen und Zeugnis darüber ablegen, was andere ihr Leben lang erdulden müssen. Tot sind wir lange genug – das ist meine Form, mich selbst zu spüren. Ich habe mich immer zu Außenseitern hingezogen gefühlt.
Fällt es Ihnen schwer, Ihren „Kollegen auf Zeit“ etwas vorzumachen?
Ich habe immer das Bedürfnis, mich ihnen anzuvertrauen. Früher habe ich das auch mal gemacht – und dann flog alles auf. Bei meiner Arbeit in der Fabrik war ich so maskiert, dass die Kollegen mich als Günter Wallraff nicht erkennen konnten. Wenn das Ganze dann veröffentlicht wird, fühlen sie sich aber nicht hinters Licht geführt - sondern sind froh.
Interview: Julia Lenders
- Themen:
- Menschenrechte