Seelenqualen der Juden in München und Bayern: So berichten sie über Krieg und ihr Leben in Deutschland

München – Die Bilder aus Israel erschüttern die Welt. Nachrichten von massakrierten Babys, ermordeten Jugendlichen, Entführten und komplett ausgelöschten Familien entsetzen zutiefst. Seitdem am Samstag Hamas-Terroristen Israel angriffen haben und wahllos morden, quält Münchner Jüdinnen und Juden die Angst um Verwandte und Freunde in Israel.
Die AZ sprach mit dem Wissenschaftler Noam (51), dessen Bruder vor mehr als 20 Jahren bei einem Anschlag von Hamas-Terroristen getötet wurde. Und mit der zweifachen Mutter Anat (43), die am Samstag in Tel Aviv war.
"Sind mit dem Schrecken davongekommen": Eine Mutter flieht von Israel nach München
Die Münchnerin Anat saß im Flugzeug nach Tel Aviv, als die Terroristen begannen, Hunderte Raketen auf Israel abzufeuern. Die 43-Jährige wollte zur Hochzeit ihrer Cousine, hatte ihren kleinen Sohn (1,5) dabei. Im Flieger bekam sie von dem Grauen, das über dem Land, in dem ihre Familie lebt, eingebrochen war, noch nichts mit.
"Nach der Landung, im Bus zum Terminal hingen alle plötzlich an ihren Handys. Die Stimmung war panisch. Ein Paar im Bus versuchte verzweifelt, Hilfe zu finden für die Tochter." Das Mädchen war – so ergab sich aus den Gesprächen – auf dem Musikfestival, auf dem Terroristen Hunderte Teilnehmer ermordeten.
"Das Mädchen hatte sich in einem Busch vor den Terroristen versteckt und von dort ihre Eltern informiert", berichtet Anat. Ob die Tochter überlebt hat, weiß Anat nicht. Erst allmählich begriff sie, dass Krieg ist. Am Flughafen warteten in Tel Aviv ihre Eltern. Anat wollte erst mal nach Hause, fuhr mit ihrem Kleinkind ins etwa zwei Stunden entfernte Haifa.
Zuerst wollte sie in Israel bleiben, erzählt sie der AZ. "Ich habe mich gefragt, ob ich irgendwie helfen, etwas beitragen kann." Dann entschied sie doch, zurück nach Deutschland zu fliegen – wenn möglich. "Ganz viele Flüge wurden annulliert. Mein Mann hat es aber geschafft, ein Ticket nach Wien zu ergattern." Am Sonntag flog sie zurück nach Europa, fuhr mit ihrem Sohn von Wien zurück nach München. "Wir sind mit dem Schrecken davongekommen", sagt die Mutter.
"Wahlergebnisse in Bayern waren ein Schock": Auch in München fühlen sich Juden nicht mehr wohl
Seitdem verfolgt Anat ständig die Medienberichte – wie so viele Israelis, Jüdinnen und Juden in München und überall. "Es ist herzzerreißend, was man erfährt – und empörend. Die Welt sieht jetzt, dass die Hamas eine Terrororganisation wie der IS ist", sagt Anat. Die Angst um ihre Familie und ihre Freunde in Israel sind für sie seitdem ständige Begleiter. Die Hochzeit ihrer Cousine wurde abgesagt, deren Verlobter wurde mittlerweile eingezogen, Anats Cousin ebenfalls. "Das sind Leute, die vorher ganz normal ihr Leben gelebt haben. So ist das jetzt."
Auch in München fühlt sich Anat nicht mehr wirklich sicher. So würde es auch anderen Jüdinnen und Juden gehen. Zur Solidaritätskundgebung für Israel auf dem Odeonsplatz seien aus diesem Grund viele nicht gegangen. "Für mich war es ein großer Schock, als ich aus Tel Aviv zurückkam und die Wahlergebnisse in Bayern erfuhr." Der wachsende Antisemitismus und das Erstarken der AfD machen ihr Angst. "Wo kann man heutzutage als Jüdin und Jude noch leben? Wo kann man auf der Straße noch Hebräisch sprechen?", fragt sie.
Israel im Krieg: Auf dem Jakobsplatz in München wird den Opfern gedacht
Auch der Wissenschaftler Noam (51) ist seit Samstag unter Schock. Er ist Israeli, Jude und lebt seit elf Jahren in München. Es fällt ihm schwer, seine Gefühle in Worte zu fassen. Seine Familie lebt in Jerusalem, Tel Aviv und Haifa. Er versucht zu verhindern, dass sein Sohn (12) die entsetzlichen Bilder aus Israel sieht.
Noams Bruder ist vor Jahren bei einem Anschlag der Hamas getötet worden. Der jüdische Wissenschaftler sagt von sich: "Ich funktioniere. Ich esse, ich arbeite, ich schlafe. Aber in mir ist etwas erschüttert." Der 51-Jährige ist in Gedanken bei den Angehörigen der Todesopfer und der Entführten. "Man kann nur anfangen, sich vorzustellen, wie sie sich fühlen. Die Vorstellung ist kaum auszuhalten."
Am Jakobsplatz findet am Donnerstag (12.10.) um 18.30 Uhr ein gemeinsames Gedenken statt mit der langjährigen IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch, Ministerpräsident Markus Söder (CSU), Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD), Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU), Talya Lador-Fresher, der Generalkonsulin des Staates Israel, Erzbischof Reinhard Marx und dem evangelischen Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm.