Vorsitzender der Deutschen-Knigge-Gesellschaft: "Anstand ist eine Haltung"

Adolph Freiherr Knigge wurde vor über 250 Jahren geboren. Doch seine Benimm- und Anstandsregeln sind zeitlos. Das findet zumindest der Vorsitzende der Deutschen-Knigge-Gesellschaft, Clemens Graf von Hoyos.
Der Münchner verrät im AZ-Interview, ob er sich selbst immer an alle Knigge-Regeln hält, in solchen Situationen er ins Straucheln kam und warum es in Sachen Benehmen in Deutschland Nachholbedarf gibt.
AZ: Herr Graf von Hoyos, Sie sind Vorstandsvorsitzender der Deutschen-Knigge-Gesellschaft. Ist es anstrengend, immer alles vorbildlich und ohne Fauxpas meistern zu müssen?
CLEMENS GRAF VON HOYOS: Wenn Sie wüssten! Als ich gestern Abend nach Hause kam, habe ich erst einmal ein Burger-Patty direkt von der Grillzange gegessen (lacht) – aber das mache ich natürlich nur, wenn ich alleine bin. Ansonsten kommt es darauf an zu wissen, wo man sich wem gegenüber wie in optimaler Weise verhält. Ich weiß aber auch, dass Menschen mir gegenüber befangen sind. Viele haben die Sorge, vor mir etwas falsch zu machen. Aber der Maßstab ist nicht richtig und falsch oder gut und schlecht, sondern angemessen und unangemessen – und dabei gibt es sehr viele Freiheitsgrade je nach Situation. Entscheidend ist für mich, dass die Leute das Herz am rechten Fleck haben.
Verhalten in unerwarteten Situationen: Da hilft der Knigge
Immerhin waren auch Sie schon mal kurz sprachlos und wussten nicht, wie Sie angemessen reagieren sollten – Sie fanden über einen Zeitungsartikel heraus, dass die Empfangsdame Ihres Münchner Büros einem Nebenjob als Domina nachging.
Das ist wirklich wahr! Es stand auf der Doppelseite in der Mitte eines großen Magazins. Ich bin an sich absolut liberal. Ich versuche, Menschen immer unvoreingenommen zu begegnen, aber das war auch für mich eine spezielle und unerwartete Situation.
Wie haben Sie reagiert?
Wir haben es gut geschafft, ihre privaten Vorlieben vom Arbeitsumfeld zu trennen. Aber in den ersten Wochen war ich sehr befangen (lacht).
Der Vorfall ist in Ihrem Buch "Anstand statt Ellbogen" nachzulesen, das Sie gerade mit Birte Steinkamp herausgebracht haben. Darin geht es darum, wie man sich auch heute noch an Knigges Ideen orientieren kann. Provokant gefragt: Sind seine Ansichten überhaupt noch zeitgemäß? Adolph Freiherr Knigge wurde schließlich 1752 geboren.
Unbedingt! Seine Beobachtungen sind universell und zeitlos. Es geht ihm nicht um den Umgang mit Messer und Gabel, sondern um Wertschätzung und Rücksichtnahme. Und das ist der Kitt einer Gesellschaft. Es fehlt nur allzu häufig die Sensibilität dafür.
Menschen werden unhöflicher: Ein Mangel an Sympathie?
Inwiefern?
Wir sind häufig viel zu gestresst und zu bequem dafür. Oder auch aus einem Mangel an Sympathie heraus gelingt es uns nicht, den Menschen adressatengerecht zu begegnen.
Wie steht es also um Anstand, Manieren und Etikette in Deutschland 2023? Rücksichtnahme vermisst man heutzutage durchaus so manches Mal.
Das Gefühl sagt mir auch: Wir haben hier auf jeden Fall Nachholbedarf. Das Interessante ist, jeder sagt von sich: "Ich kann mich ja gut benehmen." Bei genauerem Hinsehen merkt man, das ist eher eine Einbildung. Es gibt Optimierungsbedarf.
Können Sie ein Beispiel nennen, wo man im Alltag mehr aufeinander schauen sollte?
Das gibt es jeden Tag. Im Verkehr, im Supermarkt, im Kino, im Theater. Man hört etwa am Bahnsteig zu laute Musik, achtet nicht auf seine Getränke, wenn man sich durch eine Reihe drängt. Was mir dabei wichtig ist: Gutes Benehmen ist keine Frage des Alters. Häufig sind es auch Menschen ab 40, 50, 60 und älter, die sich ein Verhalten herausnehmen, das für ein gutes Miteinander nicht so förderlich ist.
Clemens Graf von Hoyos: Schnelllebiger Alltag macht uns unempathisch
Wie erklären Sie sich, dass gutes Benehmen bei so manchem schwindet? Liegt es wirklich nur am Stress?
Es ist, wie gesagt, eine Triade aus Stress, Mangel an Empathie und Bequemlichkeit. Wir nehmen uns nicht mehr die Zeit, wertschätzend mit anderen Menschen umzugehen.
Viele verbinden Knigge mit strengen Benimmregeln. Dabei hat er ursprünglich gar nicht auf richtig oder falsch gepocht. Auch gibt es kein strenges Regelwerk. Warum hält sich diese Annahme trotzdem?
Knigge hat am Anfang seines Buches 13 Etikette-Regeln aufgegriffen, etwa dass man immer mit demselben Fuß wie die Dame antritt, wenn man sie am Arm führt. Das ist sehr spezifisch. Gleichzeitig hat er das mit dem Satz beendet: "Dies soll nicht der Ort sein, diese Dinge zu besprechen." Leider gab es 1788 und in den folgenden Jahren noch kein strenges Copyright, und sein Werk "Über den Umgang mit Menschen" wurde erweitert. Dadurch wurde aus der aufklärerischen Schrift zunehmend ein Etikette-Kanon – was wahnsinnig schade ist. Denn soziale Normen ändern sich, aber der Umgang mit Menschen bleibt über alle Jahrhunderte gleich.
Vorsitzender der Deutschen-Knigge-Gesellschaft: Anstand heißt nicht nur Lächeln und Winken
Was macht Knigge für Sie aus?
Aufrecht dastehen, freundlich lächeln und immer höflich bitte und danke sagen ist schon die halbe Miete. Die andere Ebene ist der Blick auf seine Mitmenschen. Jeder Mensch möchte gesehen, gehört und verstanden werden. Wenn man versucht, Menschen ganzheitlich wahrzunehmen und zu verstehen, was in ihnen vorgeht, ist man nah dran am Knigge-Olymp.
Wie wollen Sie diese Ideen in die Gegenwart übersetzen?
Wir müssen die Herausforderungen der heutigen Zeit berücksichtigen: Wir bewegen uns im Spannungsfeld der Emanzipation, der Digitalisierung, der Globalisierung. Wenn wir zeigen, wie man sich selbst treu ist und bleibt und gleichzeitig seine Mitmenschen nicht aus den Augen verliert, hat man Knigge schon ins Jetzt übersetzt.
Knigge-Experte: "Benehmen ist eine Haltung"
In Ihrem Buch geht es unter anderem um die eigenen Ideale. Welches sind denn Ihre?
Unvoreingenommenheit, Harmonie, Disziplin und Moral.
Warum ist es wichtig, seine eigenen Ideale zu kennen?
Man verwechselt Knigge viel zu häufig mit dieser Etikette, wie man Besteck richtig verwendet. Dabei ist Knigge eine Frage der Haltung. Ideale setzen wir gleich mit Werten. Es ist wichtig zu wissen: Wer bin ich? Wofür stehe ich? Wenn man sich dessen bewusst ist, kann man schon besser mit seinen Mitmenschen umgehen.
Warum?
Konflikte entstehen da, wo man Unterschiede vermutet. Wenn man herausarbeitet, dass viele Ideale recht identisch sind, lässt sich eine Atmosphäre des Wohlfühlens erzeugen. Kommt man mit Idealen einer Person so gar nicht zurecht, darf man sich davon aber auch emanzipieren.
"Leben und leben lassen": Anstand ist viel mehr als nur Toleranz
Man muss aus Höflichkeit keinen Kompromiss auf Biegen und Brechen suchen?
Knigge war ein sehr duldsamer, stoizistischer Mensch, aber er sagte auch: Wenn wir im Zweifel mit Verhaltensweisen konfrontiert werden, mit denen wir nicht zurechtkommen, dürfen wir Grenzen setzen. Grundsätzlich ist der Kern des Anstands, die Menschen einschließlich ihrer Einstellungen und Haltungen zu akzeptieren. Das ist etwas weniger als wertschätzen, aber deutlich mehr als tolerieren, also ertragen. Ja, das ist schwierig, aber macht eben einen anständigen Menschen aus.
Haben Sie ein paar Tipps, wie man das schafft?
Leben und leben lassen und sich nicht in die Angelegenheit anderer einmischen. Auch Grabenkämpfe, wie wir sie politisch und gesamtgesellschaftlich derzeit erleben, lassen sich vermeiden, wenn man andere Meinungen zulässt und schaut: Wo sind die Gemeinsamkeiten? Je mehr wir Unterschiede betonen, desto größer wird die gesellschaftliche Kluft werden. Ein Konsens ist immer besser als ein Kompromiss – und damit kommen wir auch als Gesellschaft weiter.

Was tut man, wenn man sich einen Fauxpas geleistet hat?
Angriff ist die beste Form von Verteidigung, ich würde also das Fehlverhalten thematisieren: "Ich habe das Gefühl, ich habe gerade etwas gesagt, mit dem ich dich vor den Kopf gestoßen habe. Was war das denn?" Dadurch schafft man ein Ventil, um den Druck aus der Situation zu nehmen. Am nächsten Tag fängt man dann wieder auf einem weißen Papier an – sinnbildlich. Im Vorfeld, wenn ich weiß, ich tue etwas, was sich nicht geziemt, kann man das Verhalten auch ankündigen. Damit wird deutlich, dass ich ein Gefühl für Konventionen habe, mich aber in diesem Moment bewusst darüber hinwegsetze.
Ideale sind nur ein Teil Ihres sogenannten "4i-Modells" im Buch. Was gilt es noch zu beleuchten, wenn man sich an Knigge orientieren will?
Das zweite i steht für das Image. Welches Bild möchte ich von mir schaffen? Das sollte möglichst authentisch und integer sein und in Kongruenz mit meinen Idealen stehen. Das dritte i ist die Interaktion. Wie gehen wir miteinander um? Hier kommen wieder Wertschätzung und Rücksichtnahme ins Spiel. Die drei großen Z sind ein Zeichen von Wertschätzung: Zeit, Zuwendung - man wendet sich mit drei Körperpartien dem Gegenüber zu; Nasenspitze, Bauchnabel und Fußspitzen sind auf mein Gegenüber gerichtet. Das dritte Z steht für Zärtlichkeit, das sollte nicht mit einer Nackenmassage verwechselt werden, sondern meint Sanftmut. Und das vierte i steht für Instrumente in der Praxis.
Das Buch "Anstand statt Ellbogen": Eine Anleitung gegen Unhöflichkeit
Wie gehen Sie mit all diesem Wissen im Hinterkopf mit unhöflichen Menschen um?
Ich übe mich in Geduld. Nach Knigge: fühle, denke, dulde, schweige, lächle.
Bayerisches Zen erwähnen Sie auch. Was ist das?
Es gibt diesen uralten Spruch: Erstmal machen wir nix, dann schauma mal – und dann sehma scho. Das ist eine sehr stoizistische Ansicht. Man analysiert die Situation und wie man auf etwas reagieren möchte – oder ist überhaupt eine Reaktion notwendig?
Die Bayern sind also von Grund auf Knigge-affin?
Absolut!
Zum Buch: Clemens Graf von Hoyos, Birte Steinkamp: Anstand statt Ellbogen. Wie Sie zu dem Menschen werden, dem Sie selbst gern begegnen möchten; Forward Verlag; 24,90 Euro
AZ-Extra: Knigge-reif im Jahr 2023
Als Adolph Freiherr Knigge lebte und wirkte, gab es noch keine moderne Kommunikation. Die AZ wollte von Clemens Graf von Hoyos wissen, wie er in zehn modernen Situationen angemessen reagiert:
- In Sozialen Netzwerken kommt ein abfälliger Kommentar auf einen Post: "Mit großer Wahrscheinlichkeit mache ich: nichts", sagt Clemens Graf von Hoyos. Wenn ihm spontan etwas Geistreiches einfalle, würde er mit Charme, Witz und Humor versuchen, die Person noch für sich zu gewinnen. Gemein kontern? "Niemals."
- Bei einer Videokonferenz trinkt jemand wiederholt Kaffee: "Es macht einen großen Unterschied, ob man trinkt oder isst. Es gibt niemanden, der ästhetisch vor der Kamera essen kann." Trinken ist dagegen völlig okay.
- Jemand antwortet ewig nicht auf eine Nachricht: Das passiert dem Knigge-Trainer selbst, wie er eingesteht. Eine Antwort bei WhatsApp 24 bis 48 Stunden später hält er noch für höflich.
- Jemand kommt mit Flipflops ins Büro: "Wenn es mein Büro wäre und ich erwarte an diesem Tag Parteiverkehr, würde ich etwas sagen."
- Jemand schmatzt unüberhörbar: Das sei ihm kürzlich bei einer Bahnfahrt widerfahren. Zwei Stunden lang habe er das laute Kaugummi-Kauen ertragen, dann habe er das Mädchen am Gang höflich darauf angesprochen. Wichtig: nicht vor anderen vorführen. Sondern: vier-Augen-Situation!
- Man wird sich im Lokal nicht einig, wer zahlt: "Ein Problem der heutigen Zeit: Eine Einladung ist keine EInladung mehr." Wer einlädt, zahlt aus Sicht des Knigge-Trainers auch. Sich über Geld zu streiten, findet er kleinlich.
- E-Mail ohne Anrede und die Nachricht steht im Betreff: "Das ist nicht der Gipfel der Wertschätzung." Er würde es akzeptieren, wenn es kein Erstkontakt ist. Wenn es die erste oder letzte Nachricht des Tages ist, wünscht er sich eine Anrede und eine Grußformel.
- Jemand duzt ungefragt: "Mir ist grundsätzlich ein höfliches Du lieber als ein unhöfliches Sie." Was er nicht mag, sind Nachrichten nach dem Motto: "Ich hoffe, dass du ist okay für dich."
- In einer Diskussion wird man ständig unterbrochen: "Dann sage ich: Hat die Mitte meines Satzes den Anfang Ihres Satzes unterbrochen?" Wenn das nicht hilft, stoppt er die Zeit, bis er wieder zu Wort kommt und knüpft an: "Wie ich vor vier Minuten gesagt hatte, bevor ich unterbrochen wurde." Das wirke Wunder, sagt er.
- Jemand starrt im Gespräch ständig auf sein Handy: "Unhöflich!" Er würde es ansprechen. Oder das Verhalten spiegeln, indem er ein Buch zückt und darin beginnt zu lesen. So könnte man dafür sensibilisieren, dass das Lesen – ob im Buch oder Handy – im Gespräch unpassend ist. Ideal wäre es, das Handy auf Flugmodus zu stellen und in der Tasche zu verstauen.