Vor zehn Jahren ging die Bombe hoch: Schwabinger erinnern sich

München - Die Erde bebt, der Knall ist kilometerweit zu hören. Dann steigt ein gleißender Feuerball in den Nachthimmel auf: Am 28. August 2012 explodiert mitten in Altschwabing eine US-amerikanische Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg. Experten haben sie "kontrolliert gesprengt", sie zu entschärfen war ihnen nicht möglich.

Drei Tage und Nächte hat das todbringende Überbleibsel aus dem Krieg die Schwabinger in Angst und Aufregung versetzt. Tausende müssen ihre Wohnungen verlassen, Hunderte in Notunterkünften schlafen. Bomben-Experten, Feuerwehrleute und Kräfte des Technischen Hilfswerk (THW) arbeiten unter Einsatz ihres Lebens. Denn die Bombe hat einen hochgefährlichen Langzeitzünder, der jederzeit auslösen kann.
Doch wie gefährlich der Blindgänger war, begreifen die meisten erst, als er hochgeht: 17 Gebäude werden beschädigt, Wohnungen und Läden brennen aus, ein Bombensplitter fliegt bis zur Königinstraße, prallt am Haus der Münchner Rück ab.

Besonders schlimm trifft es einige Ladenbesitzer in der Feilitzschstraße: Ihre Läden werden zerstört. Die Inhaber haben aufgegeben. Heute, zehn Jahre später, ist von der Bombennacht nicht mehr viel zu sehen. Die AZ hat sich umgeschaut.
"Die Schaulustigen - einfach schrecklich!"
Gerlinde Friese hat sich über Neugierige geärgert und einer Braut den Tag gerettet. Gerlinde Friese macht den Schwabingern seit 40 Jahren die Haare. Ihr Salon Calfati ist in der Marktstraße. Auch hier richtete die Bombe große Schäden an. Tagelang durfte die Friseurmeisterin nicht in ihr Geschäft, die Straße war gesperrt.

"Eine Frau, die ich kenne, hat sich reingeschlichen. Sie hat ihre Katze gefüttert." Etwas später sah auch Gerlinde Friese die Zerstörung: "Da war nirgends mehr ein Schaufenster. Bei uns war hinten alles kaputt, die Decke hing runter. Das Haus war wegen Einsturzgefahr gesperrt."

Schrecklich fand sie die Schaulustigen. "Das waren Völkerwanderungen, eine Katastrophe!" Aber sie hatte auch ein schönes Erlebnis: "Am Freitag hatte eine Braut einen Termin bei mir. Ich bekam eine Sondererlaubnis. Aber das Wasser war noch abgestellt. Zum Waschen sind wir dann in einen anderen Salon gegangen. Die Braut war happy."
"Die Bombe sollte das E-Werk treffen"
Janne Weinzierl (SPD) sitzt seit 26 Jahren im Bezirksausschuss Schwabing-West. Vor ihrem Haus in der Marschallstraße wurde das Krisenzentrum eingerichtet. "Unser Keller wurde beschlagnahmt, Telefonleitungen verlegt", erinnert sich Janne Weinzierl (74).

Ein paar Stunden zuvor hatte sie die Bombe noch mit eigenen Augen aus dem Kies ragen sehen. Auch ihr Haus lag in der Sperrzone und wurde evakuiert. "Wir haben zwei Wolldecken mitgenommen und Äpfel. Alle dachten ja, wir können in ein paar Stunden wieder rein." Janne Weinzierl und ihr Mann Klaus verbrachten die Nacht auf der Straße. Sie suchten ein Hotelzimmer, aber es gab keine freien Zimmer: "Es war Chirurgenkongress in der Stadt." Die Sprengung am nächsten Abend verfolgten sie bei ihrer Schwester im TV.
"Das war schon ein bisschen wie Bombenhagel." In den Tagen nach der Sprengung sei die Hilfsbereitschaft sehr groß gewesen. "Den Unbehausten, die aus ihren Wohnungen raus mussten, wurden private Quartiere angeboten." Die 74-Jährige ist sich sicher, dass die US-amerikanische Bombe im Zweiten Weltkrieg ein Elektrizitätsumspannwerk treffen sollte. "Das stand dort, wo heute Constantin Film ist", sagt die Schwabingerin.
"Die Polizei hat unsere Kunden begleitet"
Martin Pachos war der Erste, der wieder öffnen könnte - auch dank Eigeninitiative. Er ist einer der wenigen mit einem Ladengeschäft, die heute noch da sind: Martin Pachos betreibt in der Feilitzschstraße 1 den Friseursalon "Just Hair", mittlerweile ist noch ein Waffelladen dazugekommen.

"Ich war live dabei, wie es meine Eingangstür zerrissen hat", erzählt Pachos. Er hatte sich auf einer Videokamera, die in seinem Laden hängt, zugeschaltet. Nach dem großen Knall sah er, wie ein Feuerwehrmann durch seinen Salon ging. "Das war Wahnsinn damals, eine irre Zeit!" Sein Geschäft durfte er erst wieder betreten, nachdem ein Statiker geprüft hatte, ob das Haus noch sicher steht. Und es gab noch mehr Hürden: "Auflage war, dass alle Fenster repariert sind, erst dann durfte ich öffnen."
Martin Pachos hatte keine Betriebsunterbrechungsversicherung. Damit es schneller geht, organisierte er selbst Firmen, die Fenster und Dach reparierten. Das zahlte sich aus: "Ich habe mit der Stadt telefoniert und dann wurde nur bei uns die Absperrung aufgehoben. Die Polizei brachte unsere Kunden einzeln zum Friseur." Das war am 1. September. Martin Pachos weiß das noch so genau, weil er an dem Tag Geburtstag hat. Den Schaden an seiner Tür hat die Versicherung des Hauseigentümers gezahlt.
"Ich dachte, jetzt bin ich ein armer Mann"
Wohnung, Laden - alles kaputt. Optiker Günther Radauer hat von vorn begonnen. Seit 19 Jahren betreibt Günther Radauer sein Brillengeschäft "Eye Spy" in der Feilitzschstraße 13. Er wohnt auch im selben Haus. "Just an dem Tag, als die Polizei kam und sagte, wir müssen evakuieren, hatte ich eine neue Schaufensterfront bekommen." Radauer dachte, am Abend sei alles vorbei und ging zu einem Freund.

"Als ich den Feuerball sah, dachte ich, jetzt bin ich ein armer Mann: kein Zuhause mehr, kein Laden. Das war's." Als er das Haus wieder betreten durfte, sah er nur Zerstörung: Optische Geräte, Brillen, Vitrinen, alles war durchs Geschäft geflogen. Das Treppenhaus: zerstört, und auch in seiner Wohnung war vieles kaputt. "So stellt man sich Krieg vor", sagt Radauer. "Den erleben jetzt die Menschen in der Ukraine." Der Optikermeister hatte eine gute Betriebshaftpflichtversicherung, heute sieht man nichts mehr von den Schäden. Er denkt noch öfter an seinen Nachbarn mit dem Klamottenladen. "Bei dem war es krass. Der war traumatisiert. Er ist weggegangen."
"So wie wir es gemacht haben, war es richtig"
Andreas Heil, Leiter der Kampfmittelräumung Tauber, hatte bei der Sprengung den Hut auf.

AZ: Herr Heil, wie besonders war diese Bombe für Sie?
ANDREAS HEIL: Ein Langzeitzünder, den man nicht entschärfen kann, dazu noch in einem bewohnten Gebiet, das hat man nicht jeden Tag. Sowas brauch mer nimmer! Das sagen auch die Kollegen, die alle dabei waren.
Wie war die Situation damals?
Wir hatten eine 500-Pfund-Bombe mit 120 bis 130 Kilo Sprengstoff drin, das Ganze umschlossen von einem Stahlkörper. Das gibt bei der Detonation eine gewaltige Druckwelle. Wenn ich die Bombe verdämme, also oben was draufpacke, geht der Druck vor allem nach unten. Das musste vermieden werden.
Warum?
Etwa 1,50 Meter unter der Bombe war das Grundwasser, etwa zehn Meter neben der Bombe lag eine Gasleitung und 40 Meter entfernt war der U-Bahnschacht, der nicht beschädigt werden durfte.
Stattdessen wurden viele Häuser beschädigt. Würden Sie heute alles genauso machen?
Unter den gegebenen Umständen sind wir auch heute noch der Meinung: So wie wir es gemacht haben, war es richtig. Und wir würden es genau so wieder machen.
"Wir wurden extrem durch den Kakao gezogen"
Auch wieder mit Strohballen?
Ja, Stroh bremst den Splitterflug stark, gleichzeitig ist es nicht so schwer.
Einige kritisierten, Sie hätten das Stroh nassmachen sollen.
Bei einer derartigen Detonation wäre das Wasser sofort verdampft, und dann brennt das Stroh genauso gut. Wenn überhaupt, hätte man Strohballen nehmen müssen, die monatelang im Wasser versenkt waren. Aber die wären dann schwer wie Kanonenkugeln gewesen. Wenn sowas in der Gegend rumfliegt, ist das für die Gebäude auch nicht gut.

Was hat man Ihnen noch vorgeworfen?
Wir wurden extrem durch den Kakao gezogen, weil so viele Personen an der Bombe gearbeitet haben. Aber ich habe damals angeboten, dass wir alles mit eigenen Leuten machen können. Das hätte allerdings schon zwei Wochen gedauert. Da hieß es: So lange können wir den Evakuierungskreis nicht aufrechthalten. Die Leute waren nach meinen Informationen freiwillig vor Ort.
Hätte es andere Möglichkeiten gegeben, die Bombe zu entschärfen?
Inzwischen hat die Firma Tauber für Bayern ein Wasserschneidgerät angeschafft. Aber damals waren wir noch nicht so weit.
Wie funktioniert das?
Ein feiner Wasserstrahl, dem Granat beigemischt ist, wird mit einem Druck von 2.800 bis 3.500 Bar angesetzt und schneidet den Zünder heraus. Das geschieht ferngesteuert, falls es doch knallt.
"Die waren voll mit Adrenalin, gleichzeitig physisch und psychisch fix und fertig"
Wie ist es Ihren Mitarbeitern ergangen nach diesem Einsatz?
Die waren voll mit Adrenalin, gleichzeitig physisch und psychisch fix und fertig. Sie hatten alle nur kurze Schlafpausen. Der Rauch nach der Sprengung war noch nicht verzogen, da sind diejenigen, die ihren Job direkt an der Bombe erledigt haben, sofort in einen VW-Bus gestiegen und abgehauen.
Haben Sie und Ihre Mitarbeiter unter der Kritik und den Schuldzuweisungen gelitten?
Ja, unsere Leute tragen ja ihre Haut zu Markte. Auch die Ehefrau eines Feuerwerkers hat mich einen Tag später angerufen und mich zur Sau gemacht. Aber das ist unser Job. So eine Bombe ist kein Kinderspiel. Das hat man auch 2010 in Göttingen gesehen, wo beim Entschärfungsversuch eines Langzeitzünders mit Wasserstrahlgerät eine Bombe explodiert ist. Es gab drei Tote, mehrere Kollegen wurden schwer verletzt.
Hat die Firma Tauber Schadensersatz zahlen müssen wegen der Schwabinger Bombe?
Die Versicherungen haben versucht, Geld vom Freistaat und von uns wiederzubekommen. Das ging bis 2017. Tauber hat dann einem Vergleich zugestimmt.
Haben Sie Lehren gezogen aus dieser Geschichte?
2019 konnten wir bei einer Sprengung in Regensburg noch weniger vorbereiten. Da habe ich darauf bestanden, dass mir die Stadt schriftlich einen Auftrag erteilt, darin war eine Haftungsfreistellung enthalten. Ich habe gesagt, wenn sie den nicht unterschreiben, drehen wir auf dem Absatz um - und sie können mit ihrer Bombe machen, was sie wollen.