Vor der Wahl unterwegs im Bahnhofsviertel von München: "Seit Jahren wird alles schlimmer"

München - Am liebsten macht Ludwig Hartmann Wahlkampf in Neubaugebieten. Er ist der Fraktionschef der Grünen im Landtag und ihr Spitzenkandidat. Denn in Neubaugebieten, sagt er, leben die meisten schon so, wie es sich die Grünen vorstellen: mit Wärmepumpe, Solar, E-Auto. Für diesen Freitagvormittag hat sich Hartmann ein Kontrastprogramm ausgesucht: Haustürwahlkampf im Münchner Bahnhofsviertel. Denn das gehört auch zu seinem Stimmkreis München-Mitte.
Treffpunkt ist kurz nach 10 Uhr an der Goethestraße, gleich gegenüber ist der Hauptbahnhof. Doch wo sind hier überhaupt Haustüren, an denen er klingeln könnte? Hartmann verteilt Flyer in einem Blumengeschäft, einem Kosmetik-Salon, einem Döner-Imbiss, einem Handyshop. Dort steht Amr Saleh, 36 Jahre alt, mit einer Espresso-Tasse in der Hand. Ursprünglich kommt er aus dem Irak, seit 2006 lebt er in Deutschland. Er hat sich hier sein eigenes Geschäft aufgebaut, gut Deutsch gelernt.
Ludwig Hartmanns Rezept für Integration: Arbeit
Saleh erzählt von den Bettlern und von den Tagelöhnern, die vor seiner Ladentür darauf warten, dass ein Bus sie zu einer Baustelle bringt, wo sie schwarz arbeiten. "Der Zoll müsste die Baustellen mehr kontrollieren", sagt Hartmann. "Ach was, die Polizei müsste hier nur eine Stunde stehen", sagt Saleh. Seit Jahren werde alles schlimmer, manchmal würden so viele Bettler vor seinem Geschäft stehen, dass sich die Kunden nicht mehr reintrauen, erzählt der 36-Jährige.
Er habe den Wahlomat gemacht: "Raus kam AfD", sagt Saleh. Er klingt bestürzt darüber. Wählen darf er nicht, weil er keinen deutschen Pass hat. "Man muss die eigene Kultur ja nicht aufgeben", sagt Hartmann noch. "Doch, klar muss man das, man muss sich anpassen", antwortet Saleh. Hartmanns Rezept für Integration lautet: Arbeit. Gleich beim ersten Termin bei der Ausländerbehörde müssten Geflüchtete gefragt werden, was sie arbeiten können, findet er. Parallel zum Deutschkurs sollte es gleich losgehen mit einem Job.
"Werden wir nicht toppen können": 2018 holte Ludwig Hartmann in München-Mitte ein Rekordergebnis
Hartmann weiß, dass sich im Vergleich zu 2018 die Stimmung verändert hat. Damals erzielte er in München-Mitte ein Rekordergebnis von 44 Prozent. "Ich bin ehrlich, das werden wir nicht toppen können", meint Hartmann. Dass drei Viertel der Deutschen mit der Ampelregierung in Berlin unzufrieden sind, hat freilich auch Hartmann mitbekommen.
Doch aus seiner Sicht redet Deutschland zu wenig darüber, was gerade alles gut läuft: Die Strompreise sinken wieder und mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, ist durch das 49-Euro-Ticket so günstig wie nie, sagt Hartmann. Trotzdem wird Saleh nicht der einzige Unzufriedene bleiben, dem er im Bahnhofsviertel begegnet.
Die Unbekannte der CSU: Susanne Hornberger
Auch Hartmanns Konkurrentinnen im Stimmkreis Mitte setzen darauf, dass die grüne Welle, auf der Hartmann 2018 surfen konnte, etwas abgeflaut ist. "Ich will eine versöhnende Verkehrswende statt grün-roter Verbote", sagte Susanne Hornberger, die Kandidatin der CSU, bei einer Veranstaltung auf der Dachterrasse des Schwulenlokals Deutsche Eiche, zu der sie Ministerpräsident Markus Söder (CSU) eingeladen hatte. Für sie ein Signal, dass die CSU eine liberale Großstadtpartei ist.

Hornberger ist 50 Jahre alt, berichtete früher für die ARD aus dem Vatikan und arbeitet inzwischen für die PR-Abteilung der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung. Sie lebt in der Weißenburger Straße in Haidhausen, die die grün-rote Stadtratsmehrheit gerne in eine Fußgängerzone verwandeln würde.
Bei einer Bürgerversammlung stellte sie den Antrag, dass es eine richtige Bürgerbeteiligung geben müsse – weil so viele Ladenbesitzer Angst hätten, sich die Mieten nicht mehr leisten zu können, wenn die Weißenburger Straße zu schön wird. Ansonsten ist Hornberger relativ unbekannt, sie war noch nie Mitglied eines Parlaments, nicht mal im Bezirksausschuss.
Susanne Seehofer nimmt schlechte Umfragewerte als Ansporn
Bei der FDP-Kandidatin ist zumindest der Name prominent: Susanne Seehofer (32) ist die Tochter des ehemaligen CSU-Ministerpräsidenten Horst Seehofer. Allerdings ist es gut möglich, dass die FDP gar nicht in den Landtag einzieht. Zu schlecht sind die Umfragewerte gerade. "Das ist erst recht ein Ansporn, jetzt noch mehr Gas zu geben", meint sie.

Auch sie spürt, eine andere Stimmung bei den Menschen, verursacht durch Inflation und hohe Energiepreise: "Sobald es an den Geldbeutel geht, wissen die Menschen wieder, was zählt." Sie fordert deshalb Klimaschutz ohne Verbote, sondern durch Innovation und Technologie.
Hartmann hat in der Goethestraße die Wettbüros, die Dönerläden, die orientalischen Supermärkte hinter sich gelassen. Aber die Frage, wo die Menschen wohnen, ist geblieben. Er steht in einem Innenhof, um ihn herum loftartige Wohnungen, frisch renoviert. Sogar einen kleinen Spielplatz mit Rutsche gibt es.
Wer klingeln will, muss auf einen Touch-Bildschirm drücken. Namen stehen hier nirgends auf Klingelschildern. Dafür könnte eine Kamera den Bewohnern gleich verraten, wer klingelt – wenn jemand da wäre. Ein Mann öffnet dann doch die Tür, aber als er hört, dass es um die Wahl geht, schließt er sie gleich wieder.
"Niemand will dir dein Auto wegnehmen", beschwichtigt Hartmann einen Sportwagen-Fahrer
Hartmann geht weiter. Vorbei an Kanzleien, Berater-Büros, Agenturen. Er probiert sein Glück noch einmal in einem schicken Altbau. Ganz oben öffnet ein Mann die Tür. Er ist Amerikaner, macht sein Geld, indem er Firmen kauft und wieder verkauft. Er wird Ludwig Hartmann später vorrechnen, dass er mindestens eine Million im Jahr verdient.
Trotzdem hat auch er viel zu beklagen: Dass er fast die Hälfte seines Lohns als Steuer wieder abgeben müsse. Dass überall die Wirtschaft wachse, nur in Deutschland nicht. Dass die Stadt nichts anderes tue, als "fette Radwege" zu bauen. Er fahre ein Auto mit 500 PS. "Das ist für euch wahrscheinlich ganz schlimm", sagt er spöttisch. "Niemand will dir dein Auto wegnehmen", antwortet Hartmann. Er selbst fahre gerade für den Wahlkampf auch mit einem E-Bus durch Bayern.
Zwei Männer, zwei Welten, eine Meinung: Früher war alles besser
Auf dem Land werden die Menschen immer Auto fahren, glaubt Hartmann. Es gehe doch darum, dass es eines sein soll, das das Klima weniger belastet. Es gehe doch darum, dass die deutsche Auto-Wirtschaft mit Dieselmotoren nicht mithalten kann mit China. Hartmann redet und redet. Und der Mann findet immer mehr, was nicht passt. Die Asyl-Politik, das Unterhaltsrecht, das Parteien-System. "Die Ampel-Regierung hat 170 Gesetze in zwei Jahren geändert. Das gab's noch nie", sagt Ludwig Hartmann.
Für 16 Jahre Stillstand unter Angela Merkel wolle er nicht die Verantwortung übernehmen. "Dann quatsch nicht, mach einfach", sagt der Mann. Auch er kann in Bayern nicht wählen, weil er keinen Pass hat. Inzwischen ist es fast 12 Uhr. Ludwig Hartmann muss eigentlich zum Klimastreik. Seine Pressestelle hat schon angerufen. Aber er will der AZ doch noch kurz erzählen, dass er sich wundert – über die zwei Männer, die nur ein paar Hundert Meter, aber doch Welten trennen und die trotzdem die gleiche Sorge teilten: dass früher vieles besser war.