"Vielen Dank, München!"
München – Gegen Ende einer ohnehin bewegten und bewegenden Diskussion über die EU-Flüchtlingspolitik wird Martin Schulz dann noch einmal sehr persönlich.
Da berichtet der Präsident des EU-Parlaments in den Kammerspielen von seinen politischen Anfängen; Bürgermeister der Kleinstadt Würselen war er damals – und schon mit Flüchtlingsfragen konfrontiert in seiner Kommune. Die sollte seinerzeit 1300 Flüchtlinge aus Afrika aufnehmen.
„Kurse sollen erklären, wie Deutschland funktioniert“
Schulz spürte die Skepsis – und bekam dann doch allerlei Helfer an seine Seite: den Schuldirektor, den Pfarrer, den Betriebsratschefs der größten Firma „und sogar den Chef des Rotary-Clubs“, erzählt Schulz. Am Ende habe die Stadt die Situation, die sich manchem zunächst als Problem dargestellt hatte, gut gemeistert.
Daraus, sagt Schulz, habe er eine Lektion gelernt, die er bis heute bewahrt hat: „Hier zu helfen, das ist ein Gebot der Menschlichkeit. Wenn alle führenden Repräsentanten allen klar machen: ,Wer Rassist ist, hat an meinen Tisch keinen Platz!’ – dann kann eine Gesellschaft solche Krisen meistern.“
Dafür bekommt Schulz lauten Beifall von den rund 700 Münchnern im Saal.
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Aktuell ist die Krise wieder da. Rund eine Million Menschen sind in diesem Jahr nach Deutschland geflüchtet; München nimmt seit Monatsbeginn 629 Flüchtlinge pro Woche auf. Inzwischen wird die Wir-schaffen-das-Kanzlerin kritisch beäugt – im Ausland und aus den eigenen Reihen. Was nun? Darüber debattiert Schulz nun bei der Podiumsdiskussion „Last Exit Germany – welche Flüchtlingspolitik braucht Europa?“, zu der die Kammerspiele und die Allianz-Kulturstiftung in Kooperation mit der Abendzeitung geladen haben.
Mit dabei: Schauspielerin Jasmin Tabatabai (48). Sie ist als Tochter einer deutschen Mutter und eines iranischen Vaters in Teheran und Planegg aufgewachsen. Aus eigener Erfahrung plädiert sie vehement dafür, dass Flüchtlingen in Kursen erklärt wird, wie Deutschland funktioniert: „Das geht am besten gleich am Anfang. Denn Deutschland ist das Land der ungeschriebenen Gesetze.“
Und: „Der Schlüssel dazu, in Deutschland respektiert zu werden, ist gut zu arbeiten.“
„Wie wäre es, wenn jeder 80. Deutsche eine Patenschaft annimmt?“
Publizist und Grünen-Legende Daniel Cohn-Bendit (70) nimmt das Stichwort prompt auf: „Flüchtlinge sollen sofort arbeiten“, fordert er. „Warum warten?“ Integration müsse so schnell wie möglich beginnen. Nebenbei holt sich der frühere EU-Abgeordnete noch einen Lacher aus dem Publikum ab: „Wer hier hätte jemals geglaubt, dass ich zu einem glühenden Verteidiger von Bundeskanzlerin Angela Merkel werden würde?“
Wie Schulz macht sich auch Naika Foroutan (43), Professorin für Integrationsforschung an der Berliner Humboldt-Universität, für ein Einwanderungsgesetz in Deutschland stark und liefert internationale Beispiele jenseits von USA und Kanada: Auch Brasilien und Singapur hätten Gesetze, die ein bis 1,5 Prozent Einwanderer pro Jahr vorsehen.
Bei 80 Millionen Deutschen wären das 800.000 Zuwanderer pro Jahr. Foroutan: „Warum nehmen Menschen in Deutschland die Zahl von 800.000 Flüchtlingen im Jahr als viel wahr? Im Vergleich mit den Flüchtlingszahlen im Libanon, Jordanien, Pakistan oder der Türkei wäre das aber nicht viel.“ Ihr Vorschlag: „Wie wäre es, wenn jeder 80. Deutsche eine Patenschaft über einen Geflüchteten übernimmt?“
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Ein Zukunftsmodell, das einigen vielleicht ein bisschen weit geht. Schon jetzt würde mancher Integrationsprozess in Bayern gesetzlich erschwert, beklagt AZ-Chefredakteur Michael Schilling: „Warum darf in Bayern niemand Flüchtlinge privat aufnehmen?“, fragt er. Und er warnt auch: „Den vielen Freiwilligen in den Asylhelferkreisen geht allmählich die Kraft aus angesichts der Belastungen und des Ärgers mit überlasteten, unterbesetzten Behörden.“
Schilling mahnt: „Einige Länder Europas sollten daran erinnert werden, dass Solidarität nicht nur bedeutet, Geld zu nehmen – sondern auch Flüchtlinge.“
Martin Schulz nickt da zustimmend. Lange schon hat er im EU-Parlament mit rechten Strömungen und Abwehrhaltungen zu kämpfen: „Die Renationalisierung ist sehr gefährlich für Europa“, warnt er. Es gelte, dagegen zu halten: „Für den Sieg des Bösen genügt es, dass die Guten nichts tun.“
Entsprechend lobt Schulz dann die Stadt München als Paradebeispiel und Vorbild für den Umgang mit der Flüchtlingskrise: „Praktisch und selbstverständlich“ hätten die Menschen hier geholfen – „selbst als zehn- oder zwölftausend Flüchtlinge hier pro Tag angekommen sind. Die Bilder von hier haben vielen Mut gemacht. Ich möchte München, OB Dieter Reiter und den Menschen in dieser Stadt heute dafür sagen: Vielen Dank!“
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