Interview

Verwaltungsgerichtschefin Breit über den Münchner Flüchtlingsherbst

Die Präsidentin des Verwaltungsgerichtshofs spricht darüber, warum die vielen Asylanträge eine Herausforderung waren - und erklärt, warum doch alles ohne Panne geklappt hat.
von  John Schneider
Andrea Breit, früher Präsidentin des Verwaltungsgerichts München, sagt, dass die Zeit nach 2015 eine enorme Belastung gewesen sei - aber alle Beteiligten hätten ein "enormes Engagement" bewiesen. Foto: Daniel von Loeper
Andrea Breit, früher Präsidentin des Verwaltungsgerichts München, sagt, dass die Zeit nach 2015 eine enorme Belastung gewesen sei - aber alle Beteiligten hätten ein "enormes Engagement" bewiesen. Foto: Daniel von Loeper © Daniel von Loeper

München - Züge voller Menschen, Münchner, die halfen, aber auch viel Arbeit für die Justiz: Denn mit der großen Migrationsbewegung im Jahr 2015 stieg auch die Zahl der Asylverfahren an. Für den dritten Teil der Serie "Münchner Flüchtlingsherbst" hat die AZ mit Andrea Breit, der damaligen Chefin des Bayerischen Verwaltungsgerichts und heutigen Präsidentin des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs gesprochen.

AZ: Frau Breit, wie haben Sie persönlich 2015 erlebt, die Ereignisse, die manche als "Flüchtlingswelle" bezeichnen?
ANDREA BREIT: Es ist mir lieber, von einer großen Zahl von Asylbewerbern zu sprechen. Als es 2015 begann, war ich Präsidentin des Verwaltungsgerichts München. Das größte bayerische und eines der größten Verwaltungsgerichte ganz Deutschlands. Den Kolleginnen und Kollegen war ebenso wie mir klar, dass mit der enormen Zahl von Zuwanderern auch eine sehr große Zahl von Asylverfahren auf uns zukommen würde. Bevor es gegebenenfalls zu einem gerichtlichen Verfahren kommt, muss aber in jedem Einzelfall das behördliche Asylverfahren vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, kurz Bamf, durchgeführt werden. Deshalb war auch klar, dass es einen Anstieg der Verfahrenszahlen nicht unmittelbar, sondern mit zeitlicher Verzögerung geben würde.

Wussten Sie, was da auf Sie zukommt?
Wie groß die Verfahrenszahlen sein würden, konnte man nur schätzen, denn weder wusste man, wie viele Asylanträge tatsächlich gestellt würden, noch war abzusehen, wie viele Anträge abgelehnt und wie viele Gerichtsverfahren sich daraus entwickeln würden. Mein Ziel war es, darauf möglichst gut vorbereitet zu sein.

Gibt es einen besonderen Fall von damals, der Ihnen in Erinnerung geblieben ist?
Jeder Fall ist auf seine Weise ein besonderer Fall, denn es geht um menschliche Schicksale. Gleichgültig, ob Einzelperson oder Familie, aus welchem Herkunftsland und mit welcher Fluchtgeschichte auch immer - wir sind uns unserer Verantwortung für jeden einzelnen Asylsuchenden ebenso wie für die Gesellschaft bewusst.

Sie waren damals Präsidentin des Verwaltungsgerichts. Wie ist das Gericht mit der Welle neuer Asylverfahren fertig geworden?
Trotz der schon beschriebenen und anderer Unwägbarkeiten haben wir begonnen, uns darauf vorzubereiten, dass die Geschäftsbelastung steigen wird, und wurden dabei auch von dem für uns zuständigen Innenministerium effektiv unterstützt, insbesondere durch eine nach und nach erfolgte, deutliche Personalaufstockung. Wir haben beim Verwaltungsgericht München und den übrigen fünf bayerischen Verwaltungsgerichten Richterinnen und Richter eingestellt, neue Kammern errichtet, Arbeit umverteilt und neue Strukturen geschaffen.

Wurde es trotzdem mal richtig eng?
Im Sommer 2017 war der Höhepunkt an Neueingängen erreicht. Da gab es eine Zeit, in der uns tatsächlich die Aktendeckel ausgegangen sind. Das war aber nur eine kurze Phase. Es ist der hervorragenden Zusammenarbeit und dem Engagement aller Beteiligten zu verdanken, dass trotz der zeitweise wirklich enormen Belastung die Verfahren geordnet erfasst und bearbeitet werden konnten und keine gravierenden Fehler passiert sind.

Wie viele Verfahren haben die Gerichte bearbeitet? Sind Sie fertig geworden?
In der Bayerischen Verwaltungsgerichtsbarkeit wurden 2017 rund 28 600, 2018 rund 30 500 und 2019 rund 27 000 Asylverfahren erledigt - ich denke, diese Zahlen sprechen für sich. Ganz "fertig geworden" sind wir allerdings noch nicht.

Wie viele Verfahren stehen noch aus?
Im Augenblick ist bayernweit noch ein Bestand von circa 24.000 Asylverfahren zu bearbeiten.

Welche Rolle spielt Corona dabei?
Corona und die deshalb erforderliche vorübergehende Sitzungspause haben uns in der ersten Jahreshälfte ein bisschen gebremst. Hinzu kommt, dass von den noch nicht entschiedenen Fällen eine nicht geringe Zahl zu den schwierigeren und oft zeitaufwendigeren zählt. Asylverfahren ist nämlich nicht gleich Asylverfahren.

Können Sie das näher erläutern?
Es gibt Herkunftsländer, bei denen eine politische Verfolgung im eigentlichen Rechtssinn relativ unwahrscheinlich ist und die Fluchtursachen andere sind. Es gibt Herkunftsländer, wie etwa Afghanistan, in denen die politische ebenso wie die tatsächliche Lage sehr differenziert und die Gefährdung des oder der Einzelnen schwer zu ermitteln ist. Hinzu kommen etwa Zeitverzögerungen durch die Einholung von Gutachten zum Beispiel bei kranken Asylsuchenden. Auch sind manche der jetzt noch anhängigen Verfahren neueren Datums, nämlich "Folgeanträge" oder Anträge für in Deutschland geborene Kinder von Asylsuchenden. Die Bearbeitung der restlichen Verfahren wird dementsprechend noch etwas Zeit in Anspruch nehmen. Wir setzen aber alles daran, auch diese Verfahren möglichst zeitgerecht zu erledigen.

Wenn man die Terminlisten des Verwaltungsgerichts durchgeht, machen Asylverfahren immer noch etwa 90 Prozent aus. Täuscht das?
Die Listen mit den mündlichen Verhandlungen des Gerichts sind schon deshalb nur begrenzt aussagekräftig, weil es außerhalb des Asylrechts viele Verfahren gibt, in denen keine mündliche Verhandlung durchgeführt wird. 90 Prozent Asylverfahren - das war auch nie der Fall. Vorübergehend, im Sommer 2017, haben die Asylverfahren tatsächlich etwa 80 Prozent unserer Neueingänge ausgemacht. 2017 hat das VG München knapp 25.000 Asyleingänge verzeichnet, die bayerische Verwaltungsgerichtsbarkeit insgesamt knapp 74.000. Man muss aber sehen, dass die Zahl der Gerichtsverfahren aus anderen Rechtsgebieten in dieser Zeit in etwa auf dem "normalen" Level von zirka 6500 beim VG München und etwa 16.000 bis 17.000 pro Jahr in der gesamten bayerischen Verwaltungsgerichtsbarkeit geblieben ist. Es wäre nicht richtig, die Verwaltungsgerichtsbarkeit allein auf die Asylverfahren zu reduzieren.

Wie sieht es aktuell aus?
Aktuell gibt es an den bayerischen Verwaltungsgerichten einen Bestand von rund 24.000 Asylverfahren und etwa 14.000 Verfahren aus anderen Rechtsgebieten. Nach der aktuellen Hochrechnung für das Geschäftsjahr 2020 werden die Neueingänge bei den Verwaltungsgerichten im Asylrecht mit rund 14.600 Verfahren sogar niedriger ausfallen als die Neueingänge in den übrigen Rechtsgebieten mit rund 15.600 Verfahren.

Sie sind als Richterin seit fast 30 Jahren mit Asyl- und Ausländerrecht beschäftigt gewesen. Was hat sich in all den Jahren geändert?
Als Richterin bin ich nicht ganz so lange tätig, sondern habe auch einige Jahre meiner Berufstätigkeit in anderen Funktionen zugebracht. Das Asyl- und Ausländerrecht ist mir aber immer wieder begegnet. Speziell bezogen auf dieses Rechtsgebiet ist nach meiner Wahrnehmung - ebenso wie in vielen anderen Lebensbereichen - spürbar, dass die Gesellschaften in allen Teilen der Welt mobiler und durch digitale Medien besser informiert und vernetzt sind.

Anders als bei der "Balkan-Krise" vor 25 Jahren?
Ein Vergleich zu den 1990er Jahren, als es infolge der "Balkankrise" eine ebenfalls sehr hohe Zahl von asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren gab, ist kaum möglich, denn damals kamen die Asylsuchenden tatsächlich in der ganz überwiegenden Zahl aus dem ehemaligen Jugoslawien. In der Zeit seit zirka 2015 kam der Zustrom dagegen nicht aus einer eingrenzbaren Region, sondern aus vielen Teilen der Welt, etwa aus Syrien, Afghanistan, dem Irak, der Türkei, Afrika, zum Beispiel Äthiopien, Eritrea, Nigeria. Auch die Fluchtursachen sind dementsprechend nicht homogen.

Wenn Sie in Sachen Flüchtlinge und Asylverfahren nach vorne schauen: Schaffen wir das?
Ich bin überzeugt davon, dass die bayerische Verwaltungsgerichtsbarkeit die Verfahren bewältigen wird. Wir sind gut aufgestellt.

Lesen Sie hier: Juncker über Flüchtlinge, Europa und Fehler der Gemeinschaft

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