Interview

"Verluste sind dramatisch": Was München nun gegen den Naturschwund in der Stadt unternimmt

München hat erstmals einen obersten Naturschützer, der ab jetzt über gefährdete Zauneidechsen, Bienen und Trollblumen wacht. Rudolf Nützel über den dramatischen Schwund in der Stadt – und was er tun will, damit sich das ändert.
von  Irene Kleber
Er trägt ein grünes Hemd, ist aber parteilos: Rudolf Nützel, Münchens neuer oberster Artenschützer im Klima- und Umweltreferat.
Er trägt ein grünes Hemd, ist aber parteilos: Rudolf Nützel, Münchens neuer oberster Artenschützer im Klima- und Umweltreferat. © Daniel von Loeper

München - Als streitbaren Naturschützer kennt man ihn schon lange, der den Finger in die Wunde legt, wenn Bäume gefällt, Zauneidechsen vertrieben, Wiesen zu früh gemäht oder grüne Ecken zugebaut werden sollen. Rudolf Nützel hat die München-Gruppe des Bund Naturschutz 28 Jahre als Geschäftsführer angeführt und aus der Position oft genug die Stadt kritisiert.

Naturschutz-Mitarbeiter in München: Rudolf Nützel soll 43 amtliche Artenschützer akquirieren

Jetzt wechselt er die Seiten. Seit April ist er Münchens oberster Natur- und Artenschützer mit Büro im städtischen Klima- und Umweltreferat an der Bayerstraße – und wacht damit ganz offiziell über das Überleben von Wildbienen, Trollblumen, Schwarzspechten & Co. Es ist ein Job, den es bisher so nicht gegeben hat. Aus wenigen Naturschutz-Mitarbeitern soll er nun eine Truppe aus 43 amtlichen Artenschützern machen. Warum braucht die Stadt das – und was hat er vor?

AZ: Herr Nützel, ich lese mal vor, was laut aktuellen Zahlen alles in München heimisch ist: 1.500 einheimische Pflanzenarten. 105 brütende Vogelarten. 64 Arten von Tagfaltern. 42 Heuschreckenarten. 47 Libellenarten. 256 Arten von Wildbienen. Ist das gut oder schlecht?
RUDOLF NÜTZEL: Die Zahlen hören sich erstmal gut an. Aber man muss auch sehen: Wir haben in den letzten 25 Jahren mindestens 15 Brutvogelarten verloren wie Rebhuhn, Wachtel und Halsbandschnäpper. 100 Wildbienenarten sind verschwunden. 43 Tagfalterarten sind seit Jahrzehnten nicht mehr nachweisbar. Die Verluste sind dramatisch. Deshalb sprechen wir von der Biodiversitätskrise.

Den Schwarzspecht gibt es kaum noch.
Den Schwarzspecht gibt es kaum noch. © C. Charisius/dpa

München als ideale Region für unterschiedliche Tierarten

Dabei gilt München doch als Eldorado für die Artenvielfalt.
Richtig. Wir haben eine günstige geografische Lage mit Naturrefugien von trocken bis nass. Au- und Lohwälder, auch mit Altholz, wie in der Allacher Lohe, Wildflusslandschaften der Isar, die Würm, riesige Heideflächen im Norden und Westen und Reste von Niedermooren am Stadtrand. Alles ideal für unterschiedliche Arten, die wir ja brauchen, damit unsere Lebensgrundlage erhalten bleibt.

Die Allacher Lohe bietet viel Raum für seltene Tiere.
Die Allacher Lohe bietet viel Raum für seltene Tiere. © Hoefer/dpa

Warum sind gerade karge Böden auf trockenen Schottern wie in der Fröttmaninger Heide gut für viele Arten?
Weil Kargheit Vielfalt schafft. Da setzen sich eben nicht Allerweltsarten wie der Löwenzahn durch, der gedüngten Boden mag. Sondern es siedeln sich hochspezialisierte Pflanzen und Tiere an, die unterschiedliche Anpassungsstrategien haben.

"Wollen wir bald Obst- und Gemüsepflanzen mit der Hand bestäuben?"

Warum verlieren wir so viele Arten?
Das größte Problem ist heute, dass wir zu viel Naturflächen überbauen und den Arten Lebensraum nehmen. Wenn Sie eine München-Karte von 1923 neben eine von heute legen, sehen Sie, dass damals ein Fünftel der Flächen von heute verbaut war. Auch Pestizide, Kunstdünger und die Stickstoffeinträge aus der Verbrennung machen unseren Wildtieren und Wildpflanzen Probleme.

Verstehen Sie eigentlich, dass Menschen genervt davon sind, wenn Zauneidechsen mal wieder ein Bauvorhaben verhindern?
Nein, verstehe ich nicht. Will die Menschheit nicht überleben? Wo wir gefährdete Zauneidechsen schützen, schützen wir auch die Lebensräume von Insekten. Die brauchen wir nicht nur in der Nahrungskette für andere Tiere, sondern auch, damit das Bestäuben von Pflanzen weiter klappt. Oder wollen wir bald Obst- und Gemüsepflanzen mit der Hand bestäuben wie in China, weil es keine Bienen oder Hummeln mehr gibt?

Panzerwiese und Fröttmaninger Heide: Hier lebt die vom Aussterben bedrohte Wechselkröte

Wo sieht man heute in der Stadt noch besonders viele seltene Pflanzen, Insekten oder Kröten?
Auf der Panzerwiese und der Fröttmaninger Heide etwa. 180 Pflanzenarten gibt es auf unseren Heideflächen noch, wie den sehr seltenen Fransenenzian oder die Silberdistel. Dort leben auch Wechselkröten, die vom Aussterben bedroht sind, Laubfrösche und andere Amphibien.

Wechselkröten sind sehr selten geworden. Auf den Heideflächen der Panzerwiese leben noch einige – rund um die Pfützen.
Wechselkröten sind sehr selten geworden. Auf den Heideflächen der Panzerwiese leben noch einige – rund um die Pfützen. © Benny Trapp/dpa

Warum klappt das auf der Panzerwiese gut?
Weil die Magerrasenflächen seit 2002 Naturschutzgebiet sind, ein Großteil der Bevölkerung die Regeln akzeptiert und die Kollegen vom Baureferat Gartenbau aufpassen, dass auch in Trockenzeiten genug Wasser in den Laichgewässern ist.

Der Landesbund für Vogelschutz kümmert sich viel um private Flächen, oft mit Ehrenamtlichen. Wie erfolgreich sind Ihre Kollegen beim Artenschutz?
Die Arbeit der Naturschutzverbände kann man nicht genug loben. Auf den Flächen, die der LBV pflegt, sind 300 gefährdete Tier- und Pflanzenarten nachgewiesen. Und es sind etliche Arten wieder aufgetaucht, die wir in München für ausgestorben gehalten haben, wie die Traubige Graslilie, das Sand-Veilchen oder das Schwertblättrige Waldvöglein.

Also können Arten auch wieder zurückkehren in die Stadt?
Da gibt es einige Erfolgsgeschichten. Der Springfrosch kommt wieder am Stadtrand vor. Der Trauer-Rosenkäfer, der im 19. Jahrhundert in München verbreitet war, ist wieder aufgetaucht. Der Kurzschwänzige Bläuling, eine Schmetterlingsart, und der Enzian-Ameisenbläuling, dessen Raupen den Kreuzenzian als Futterpflanze brauchen, sind wieder da. Einige Insektenarten sind neu eingewandert, wie die Westliche Kamillenwanze, die 2006 auf der Theresienwiese gefunden wurde.

Bayerische Zwergdeckelschnecke nur noch in München zu finden

Gibt es eine seltene Pflanze, die nur in München wächst?
Ja, das Münchner Aurikel, eine gelb blühende Felsenpflanze, die an der Isar gewachsen ist. Aber die ist seit Jahrzehnten in der Wildnis verschollen. Heute gibt es die nur noch im Botanischen Garten. Aber ein Tier, das es auch nur in München gibt, lebt noch in der Wildnis.

Oha!
Die Bayerische Zwergdeckelschnecke. Die ist zwei bis vier Millimeter groß, und es gibt sie nur noch an der Brunnbachquelle am Herzogpark in Bogenhausen. Die Quelle rieselt in den Brunnbach, der fließt in den Isar-Kanal.

Sie lebt weltweit nur am Herzogpark an der Brunnbachquelle: die Bayerische Zwergdeckelschnecke.
Sie lebt weltweit nur am Herzogpark an der Brunnbachquelle: die Bayerische Zwergdeckelschnecke. © Bastian Brenzinger/SNSB/dpa

Was können Sie als oberster Naturschützer der Stadt erreichen, was Sie als Bund-Chef nicht konnten?
Bisher konnte ich von außen Impulse geben und Forderungen stellen. Als amtlicher Naturschützer kann ich die jetzt umsetzen. Entscheiden muss letztlich der Stadtrat, etwa ob und was als Landschaftsschutzgebiet ausgewiesen wird. Aber ich bin jetzt viel näher dran.

Was genau haben Sie nun vor mit Ihren bald 43 Mitarbeitern?
Das Ziel ist, weniger Tier- und Pflanzenarten zu verlieren. Wir werden in den nächsten Monaten Lebensräume sichern.

Welche denn?
Noch heuer soll im Nordosten das Landschaftsschutzgebiet "Im Moosgrund" endgültig beschlossen werden, bisher ist der Status nur vorläufig.

Damit darf dann dort nicht bebaut werden?
Genau, anders als nebenan rund um Daglfing und Johanneskirchen, wo die Stadt ja eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme plant. Als nächstes dran sind der Landschaftspark Isar-Solln und der Landschaftspark West zwischen Hadern, Blumenau und Pasing. Ich möchte auch die Bevölkerung ermuntern, mitzuhelfen. Seit diesem Monat gibt es zum Beispiel ein Förderprogramm zur Biodiversität, man kann also einen Zuschuss für Artenschutz im eigenen Garten erhalten.


Das rät der oberste Naturschützer: Wie Sie beim Artenschutz helfen können

  • Legen Sie im Garten eine Wildblumenwiese aus heimischem Saatgut an, das lockt Insekten und Vögel an.
  • Pflanzen Sie einheimische Blütensträucher, Kräuter und Wildstauden für Bienen und Insekten.
  • Bieten Sie Nistkästen, etwa für Mauersegler oder Rotschwänzchen an und schneiden Sie Hecken nicht zwischen März und August, da nisten oft Vögel wie Zaunkönige oder Grasmücken.
  • Lassen Sie Stein-, Laub und Totholzhaufen als Unterschlupf für Igel, Käfer, Wildbienen und Vögel liegen.
  • Verzichten Sie auf Pestizide - die sind Gift für Insekten und Vögel.
  • Weg mit Schottergärten.
  • Gießen Sie Bäume, wenn es trocken ist.
  • Schalten Sie Lichtquellen aus, dort verbrennen sich nachtaktive Schmetterlinge.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.