Verhaltensgestört wegen Schmerzen: Wie Therapie Hunden und Katzen helfen kann

München - Rainy, ein vierjähriger Schäferhundmischling, spaziert mit seiner Halterin Annelen Holzer die Isar entlang. Alles normal ‒ bis ein fremder Hund sich am Horizont abzeichnet. Rainy bellt, ja schreit schon fast. So wie jedes Mal, erzählt Besitzerin Holzer der AZ. Ist er nur schlecht erzogen? Oder ist der Hund einfach von Natur aus aggressiv?
Die Antwort ist weder noch: Rainy hat Angst. Er bellt, weil er sich schützen möchte. Um diese Ursache überhaupt rauszufinden und das Verhalten abzulegen, braucht er Hilfe ‒ doch Training reicht nicht, er muss zur Verhaltenstherapie. Weil ein Hund sich nicht einfach auf die Couch legen und über seine Probleme sprechen kann, muss er anderweitig entschlüsselt werden.
Therapie für Hunde und Katzen: So arbeitet Astrid Schubert in München
Astrid Schubert, eine auf Verhaltenstherapie spezialisierte Tierärztin und Hundetrainerin, tut genau das. Sie leitet die Praxis Sirius Behaviour Vets in München, die auffällige Hunde und Katzen therapiert. Ihr Ansatz ist viel ganzheitlicher als das, was ein gewöhnlicher Hundetrainer abdecken kann.
Verhaltenstherapeutin: "Wir alle sind unter maximalem Stress nicht mehr lernfähig"
Sie geht auf die gesamte Vorgeschichte des Hundes ein und sucht auch nach körperlichen Beschwerden. "Es gibt ganz viele Hunde, die aufgrund von körperlichen Erkrankungen verhaltensauffällig sind", sagt die Tierärztin der AZ.
Fehle ihnen aufgrund von Verdauungsstörungen etwa Vitamin B, werden sie nervös, kommen einfach nicht zur Ruhe. "Ein Tier, das Schmerzen hat, wird immer eines sein, das sich nicht normal benimmt", erklärt sie.

Deshalb wurde auch Rainy "komplett durchgecheckt", wie seine Halterin Holzer sagt. So kam etwa heraus, dass Rainy das falsche Futter bekommt und deshalb die Verdauung nicht so recht funktioniert. Gerade bei Tieren, deren Störung sich bereits seit Jahren verhärtet hat, sind laut Schubert oft Medikamente nötig, um überhaupt wieder zu ihnen durchzudringen.
"Wir alle sind unter maximalem Stress nicht mehr lernfähig. Bei Lehrern, die Schüler über Angst stressen, schreiben selbst die besten Schüler schlechte Noten", erklärt die Tiertherapeutin. Doch in der Regel reichen Medikamente allein nicht aus. "Schmerz kann unter anderem Angst machen. Diese Angst und die daraus geborenen Verhaltensweisen verschwinden nicht, wenn sie lang genug wiederholt gezeigt wurden", sagt Schubert. Deshalb braucht es die Therapietechnik der sogenannten Gegenkonditionierung, um das wieder zu verlernen.
Katzen brauchen "Catwalks" und Kratzsäulen für ein gesundes Katzenleben
Schubert nennt ein Beispiel: Hat ein Hund etwa Angst vor fremden Menschen, die den Raum betreten, muss er künftig möglichst oft eine positive Erfahrung machen, wenn sich eine Person nähert, die den Raum betreten möchte. Mit der Zeit wird die aktive Annäherung an Menschen auch belohnt. Diese Übungen werden unter wechselnden Umständen wiederholt, bis so etwas wie ein "grundsätzliches Vertrauen" wieder hergestellt ist.
Auch die richtige Umgebung zu Hause spielt für den Therapieerfolg eine große Rolle: Wohnungskatzen brauchen etwa eine dreidimensionale Gestaltung des Lebensraums, zum Beispiel "Catwalks" an den Wänden, Kratzsäulen, an denen sie sich wie an einem Baumstamm nach oben hangeln können und Aussichtspunkte, von denen aus sie alles entspannt überblicken können. Auch Rückzugsorte sind für die Stubentiger wichtig.

Der Deutsche Tierschutzbund weist auf Nachfrage der AZ zudem daraufhin, dass bei Katzen die Sozialisation auf den Menschen in den ersten Lebenswochen eine besonders große Rolle spielt, damit das spätere Zusammenleben mit Menschen nicht zu Dauerstress und damit auch zu Verhaltensstörungen führt.
"Der Mensch muss Halt geben und souverän führen"
Ein ganz wichtiger Baustein für die Therapie bei Hunden ist die Beziehung zum Menschen. "Der Mensch muss Halt geben und souverän führen", sagt Schubert. Ist Frauchen oder Herrchen unsicher, geht das auf den Hund über. Holzer kann das bestätigen: "Ich musste entspannter werden. Diese Lockerheit überträgt sich."
Im nächsten Schritt musste sie dann lernen, die Hundesprache zu verstehen. "Der Hund flippt nicht von jetzt auf gleich aus, sondern gibt Anzeichen." Wenn Rainy Angst vor einem fremden Hund bekommt, erstarrt er. Und wenn er Halt braucht, sucht er Blickkontakt.
Tierärztin Schubert zeigt in ihren Therapiestunden, wie Hundehalter das erkennen können. Und gibt Tipps, wie darauf reagiert werden muss. Holzer erzählt: "Wenn ein freilaufender Hund auf Rainy zukommt, stelle ich mich vor ihn, plustere mich auf und gebe ihm Schutz'." So weiß Rainy, dass seine Besitzerin die Situation unter Kontrolle hat.
Um die Fortschritte in der Therapie reflektieren zu können, musste sie ein "Gassi-Tagebuch" führen. "Rot sind die Tage, an denen es ganz schlecht lief, Orange war solala und grün waren die guten Tage", sagt Holzer. Nach etwa einem Jahr Therapie gibt es inzwischen nur noch grüne Tage. "Das letzte Mal, dass Rainy ausgeflippt ist, ist Monate her."
Tiere werden nicht nur wegen Misshandlung krank
Laut Schubert dauert eine Therapie durchschnittlich zwischen drei und sechs Monaten. Die Sitzungen (einmal pro Monat) kosten zwischen 95 und 130 Euro, werden aber von vielen Tierkrankenversicherungen gedeckt.
Die Tierärztin betont, dass Therapie nicht heißt, dass Halter schlechte "Tiereltern" waren. Störungen können demnach auch entstehen, weil ein Hund etwa zu viel Aufmerksamkeit erhält und deshalb die Bindung zu eng ist. Trennungsängste gehören laut Schubert neben Angst und Aggressionen zu den häufigsten Störungen bei Hunden, bei Katzen ist es Unsauberkeit und übermäßiges Putzen bis zur Selbstverletzung.
Um Verhaltensstörungen vorzubeugen, empfiehlt der bayerische Tierschutzbund auf Nachfrage der AZ, sich schon vor der Anschaffung des künftigen Familienmitglieds ausgiebig mit Art, Rasse und den speziellen Bedürfnissen auseinanderzusetzen.
Muss mein Tier zur Therapie?
Ob ein Tier zur Therapie muss, können Laien laut Schubert daran erkennen, dass es beim Versuch, das auffällige Verhalten etwa mit üblichem Hundetraining zu korrigieren, immer wieder zu Rückfällen kommt. Auch verdächtig ist es, wenn der Hund jahrelang vorher unauffällig war. Ursache vieler Verhaltensprobleme sei, wenn Tiere reizarm aufgewachsen sind. In solchen Fällen reiche ein Hundetrainer nicht, warnt Schubert.
Seriöse Verhaltenstherapien unter Beachtung aller Ebenen tiermedizinischer Diagnostik können demnach nur spezialisierte Tierärzte anbieten. Holzer etwa hatte davor erfolglos Hilfe bei zwei Hundetrainern gesucht. Die Therapie war für sie "der Heilige Gral", damit es Rainy endlich wieder bessergeht.