Vera Brühne: Der spektakulärste Münchner Mordfall der 60er Jahre

München - Der Krimi begann mit einer Kurzmeldung: Am 19. April 1960, Dienstag nach Ostern, wurde der Münchner Arzt Dr. Otto Praun in seiner Villa in Pöcking tot aufgefunden, seine Geliebte Elfriede Kloo daneben. Beide wiesen Einschüsse auf.
Doppelter Selbstmord, stellte die örtliche Kriminalpolizei fest. Nichts deutete zunächst darauf hin, dass sich die Bluttat vom Starnberger See und ihre rechtliche, publizistische, aber auch politische Aufarbeitung zu einem der sensationellsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts entwickeln sollte - und zu einem Münchner Sittengemälde obendrein.
Zwei Jahre lang verfolgte ich die polizeilichen Ermittlungen und dann fünf Wochen lang den öfter unterbrochenen Prozess, über den ich täglich mehrmals für Zeitungen in der Bundesrepublik zu berichten hatte. Um das zu schaffen, tauschte ich meinen Presseplatz im Justizpalast stundenweise mit meinem AZ-Kollegen Helmuth Guthmann und meine Notizen mit den seinen.
Schon um 5 Uhr bildet sich eine Schlange am Justizpalast
Helmuth, neben dem ich schon die Schulbank gedrückt hatte, wechselte wiederum mit Nils von der Heyde, einem weiteren Gerichtsreporter der Abendzeitung; einmal muste Nils sogar als Zeuge aussagen. Für ihn war es "die interessanteste Zeit meines Berufslebens". Klar, fast jeder Tag brachte eine neue Wendung.

Nach Ermittlungen mit neuen Ergebnissen und der Exhumierung der Leichen begann am 25. April 1962 der Prozess vor dem Schwurgericht. Schon ab 5 Uhr morgens hatte sich am Stachus eine Schlange von Schaulustigen vor dem Justizpalast gebildet. Im Blitzlichtgewitter wurden die Angeklagten in den Saal geführt: die aus Essen stammende "Hausfrau" Vera Brühne, 51, blaues Kostüm, sehr blond, sehr Dame. Hinter ihr der Kölner Montageschlosser Johann Ferbach, 46, mit Handfesseln, unscheinbar.
Ungewöhnliche Züge bei der Verhandlung
Staatsanwalt Karl Rüth, sprachgewaltig wie ein Schauspieler, beschuldigte die zuletzt mit einem berühmten Filmkomponisten verheiratete "Bürgermeistertochter" Brühne und den Montageschlosser Ferbach des Mordes an dem Gynäkologen und dessen Geliebter, um dessen Anwesen in Spanien zu erben. Denn zum Zeitpunkt des Mordes war Brühne als Erbin im Testament vermerkt.
Anfangs wurde vor Gericht Banales verhandelt. Etwa die Sache mit dem wertvollen Nerz, den Brühne ihrer Freundin Lo geklaut und den Diebstahl als "Schabernack" ihrer 15-jährigen Tochter Sylvia in die Schuhe geschoben hatte.
Bald aber gewann die Verhandlung ungewöhnliche Züge. Da ging es nun um einen "blauen Brief", ein an der Schreibmaschine geschriebenes Dokument, welches Ferbach Zugang zur Villa des Opfers am Starnberger See verschafft haben soll.
Brühne wurde verdächtigt, den Brief geschrieben und die Unterschrift des Arztes gefälscht zu haben. Es gab ein vermeintlich manipuliertes Tagebuch, es ging um Schrifttypen, stehengebliebene Uhrzeiger, Leichenstarren, Schießversuche und Alibibemühungen - im nussbaumgetäfelten Gerichtssaal und bei einem Lokaltermin in der Todesvilla entrollte sich ein Kriminaldrama.
Schaulustige bringen Liegestühle und Proviant mit
Es gab aber auch Einblicke in seelische und sexuelle Abgründe sowie in die sogenannte gute Gesellschaft, von der die auf dem Land wohnhaften Geschworenen offenbar wenig Ahnung hatten. Einer der Laienrichter musste ausgewechselt werden, weil er eingeschlafen war. Zeugen gerieten ins Zwielicht. Auch den ermordeten Arzt umhüllte, weil die Herkunft seines Wohlstands nie überzeugend geklärt wurde, geheimnisvolles Dunkel.
Höhepunkt und Kern der Belastung war die Vernehmung von zwei Kronzeugen: des Betrügers Siegfried Schramm, dem Ferbach in der gemeinsamen Zelle unter dem Weihnachtsbaum den Mord gestanden haben soll, und der Brühne-Tochter, die vor der Polizei ein "Geständnis" ihrer Mutter gebeichtet hatte, dieses aber unter atemloser Spannung vor Gericht widerrief und danach von einem Psychiater als "kalte Lügnerin" bloßgestellt wurde. 22 Tage lang wurde verhandelt. Selbst an den prozessfreien Tagen ereigneten sich Merkwürdigkeiten, meldeten sich mysteriöse neue Zeugen.
In den Pausen und am Abend wurde der Fall heiß diskutiert; er war Thema Nummer 1.
Vera Brühne: "Ich bin doch unschuldig. Ich kann nicht mehr."
Am 4. Juni 1962 glich der Justizpalast einem siedenden Kessel. Schon am Sonntagabend hatten sich viele mit Liegestühlen und Proviant vor den Türen postiert, auf Treppen und Fluren drängten die Menschen, um das Urteil zu erleben.
Um 10.10 Uhr verkündete es Landgerichtsdirektor Klaus Seibert mit merklich erregter Stimme: lebenslänglich für beide Angeklagte wegen zweier in Mittäterschaft und Heimtücke begangener Verbrechen des Mordes. Motiv: Habgier.
Der Vorsitzende der Geschworenen begann mit der Begründung: "Diesem Urteil gehen fünf Verhandlungswochen mit den Aussagen von 113 Zeugen und zwölf Sachverständigen voraus..." In diesem Augenblick schlug Vera Brühne, deren Gesicht kreideweiß geworden war, mit dem Kopf auf die Brüstung der Anklagebank und rief mit erstickter Stimme: "Ich bin doch unschuldig. Ich kann nicht mehr."
Seibert ließ einen Arzt kommen. Ein Aufschrei der Verachtung und Enttäuschung ging durch den Saal, als die Verurteilte, den Kopf durch ein Tuch verhüllt, zur ärztlichen Versorgung in die Arrestzelle zurückgeführt wurde. Hinter ihr schritt Ferbach gefasst, scheinbar unbeteiligt.
15 Minuten nach der Unterbrechung konnte Seibert mit der Urteilsbegründung fortfahren. Zwei Stunden lang saß Vera Brühne regungslos da. Als wichtigste Indizien werteten die Geschworenen den "Blauen Brief". Auch die Belastungen durch die Brühne-Tochter und den Betrüger Schramm wurden als richtig anerkannt.
Doch Seibert selbst bezeichnete die Begründung als lückenhaft, sie bilde nur ein "Gerüst der Wahrheitsfindung".
Bei der Verkündung des Urteils schlägt Brühne den Kopf auf die Bank
Weit mehr Einzelheiten enthielt die schriftliche Urteilsbegründung, die fast 100 Seiten umfasste. Sie schien hieb- und stichfest, denn schon am 4. Dezember 1962 verwarf der Bundesgerichtshof das Revisionsbegehren der Verurteilten und bescheinigte dem Urteil: "Es ist frei von Widerspruch und anderen Denkfehlern."
Doch der Superkrimi war damit noch nicht zu Ende. Er brodelte weiter. In ganz Europa und bis nach Nordafrika fahndeten die Verteidiger von Brühne nach dem "wahren Mörder"; später arbeiteten sich noch andere Anwälte, Schriftsteller, Journalisten und Filmemacher an der Wahrheitsfindung oder Legendenbildung ab.

Der Fall wurde politisch, manchmal sogar weltpolitisch. So meldete sich in München ein Waffenhändler mit der Behauptung, er habe im Auftrag von Dr. Praun Waffen an die algerischen Aufständischen geliefert.
Es meldeten sich Ex-Geheimagenten, Ex-Verbrecher, Menschenrechtler, Wichtigtuer. Inzwischen starben einige der Prozessbeteiligten, darunter Ferbach. Natürlich musste auch der Name Franz Josef Strauß, der zur fraglichen Zeit Verteidigungsminister war, für Spekulationen herhalten.
Beispielsweise in einem DDR-Film. Eine Dokumentation, die im Juli 1971 im ARD-Fernsehen gezeigt werden sollte, verschwand nach Einstweiliger Verfügung im Archiv.
18 Jahre lang lebt, strickt und malt Brühne in der JVA
Der spätere bayerische SPD-Vorsitzende Rudolf Schöfberger brachte den Fall in den Landtag. Eine "Arbeitsgemeinschaft deutscher Richter" reichte bei Ministerpräsident Alfons Goppel ein Gnadengesuch ein, dem sich Vera Brühne widerstrebend anschloss. Sie beharrte auf einem neuen Verfahren. Im Mai 1974 lehnte Goppel ab, ohne Begründung. Auch im Petitionsausschuss des Landtags kamen die Vertreter beider großer Parteien zur Ansicht, das Urteil von 1962 weise keine Mängel auf.
An einem grauen Aprilmorgen des Jahres 1979 öffneten sich für die nun siebzigjährige Brühne insgeheim die Tore der JVA Aichach, wo die einst so mondäne Frau 18 Jahre lang in sich gekehrt lebte, strickte, malte und bündelweise Briefe von Verehrern bekam. Ein einziges Mal traf ich sie noch, als sie im Juli 1980 in einem Münchner Hotel 50 ihrer im Knast entstandenen Ölbilder ausstellte.
Befragt über die Chance, ihre Unschuld doch noch beweisen zu können, winkte sie ab: "Die Bayern sind ein wenig schwierig." Sie verbesserte sich: "Die bayerische Justiz." Nie wieder zeigte sich die frühere Lebedame, die das bayerische und deutsche Volk so erregt hatte, in der Öffentlichkeit. Ihr Tod am 17. April 2001 wurde erst Tage später bekannt.
Das Buch von Karl Stankiewitz - "Münchner Meilensteine" - enthält ein Kapitel über große Prozesse der Nachkriegszeit, dem hier Texte entnommen sind. Im legendären Fall berichtet unser Reporter selbst vom Gericht. Die Angeklagte trifft er nach ihrer Entlassung sogar noch einmal wieder