Probelauf zum Holocaust: Tod im Hungerhaus von Haar

Am 18. Januar 1940 wurden 25 Menschen von Haar auf die Schwäbische Alb transportiert: der Auftakt des Nazi-Massenmordes an psychisch Kranken und geistig Behinderten. Die Täter machten nach 1945 noch lange ungestört Karriere.
von  Karl Stankiewitz
Ein Ort schrecklichster Verbrechen: Die alte Psychiatrie in Haar - hier im Bild das alte Casino.
Ein Ort schrecklichster Verbrechen: Die alte Psychiatrie in Haar - hier im Bild das alte Casino. © Angelika Bardehle

Haar - Vor 78 Jahren verließ auf einem eigens und eilends verlegten Versorgungsgleis ein Zug der Reichsbahn den Münchner Vorort Haar. Er brachte 25 psychisch kranke oder geistig behinderte Männer nach Grafeneck auf der Schwäbischen Alb, wo die Nazis eine geheime und zentrale Tötungsanstalt eingerichtet hatten. Zwei Tage später folgte ein Waggon mit 20 Frauen aus der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. Es handelte sich um die ersten Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie".

Bei diesem systematischen Staatsverbrechen sind im Deutschen Reich - in eigens installierten Gaskammern, in "Hungerhäusern", in sogenannten Kinderfachabteilungen von psychiatrischen Anstalten - nach jüngsten Forschungen etwa 300.000 Menschen grausam zu Tode gebracht worden. Mehr Ärzte als bisher bekannt waren zusammen mit bayerischen Staatsbeamten maßgebend daran beteiligt.

Die systematisch betriebene Tötung der "nutzlosen Esser" - eine Abwertung, die in Bild und Film schon Hitlerjungen aufgedrängt wurde - begann mit einem Führererlass vom Oktober 1939. Und sie verlief ebenso bürokratisch wie später der Massenmord an den Juden, als dessen "Probelauf" sie bezeichnet wurde. Der offizielle Deckname lautete "Aktion T 4" - nach einer geheimen Dienststelle in Berlin. Drehscheibe der Aktion war Oberbayern.

Ein rotes Kreuz als Todesurteil

Auf Meldebögen mussten die Anstaltsleiter zunächst alle Pfleglinge mit "Erbkrankheiten" registrieren, darüber hinaus auch Alkoholabhängige und Schwachsinnige. Die fatale Entscheidung traf der Anstaltsleiter. In Haar war es der Psychiater, Neurologe und Anstaltsdirektor Professor Hermann Pfannmüller. Der hatte schon am 1. November 1939 in einem Brief an die vorgesetzte Regierung von Oberbayern versichert, "dass wir Ärzte hinsichtlich ärztlicher Betreuung lebensunwerten Lebens auch die letzte Konsequenz im Sinne der Ausmerze ziehen". Der Medizin- und Geschäftsmann fühlte sich "verpflichtet, wirkliche Sparmaßnahmen aufzuzeigen".

Nach Gutdünken und Gesinnung malte Pfannmüller ein rotes Kreuz auf den Meldebogen. Das bedeutete den Abtransport in die für den "Gnadentod" vorgesehenen Zentren - und in der Regel den Tod. Behinderte mit "eingeschränkter Arbeitsleistung" und nicht arische Patienten hatten keine Chance. Auf diese Weise wurden über 2.400 Pfleglinge von oder über Haar deportiert. Das dokumentiert dort ein kleines Museum, wo auch Erinnerungen an einige berühmte Insassen ausgestellt sind (etwa das Krankenblatt von Oskar Maria Graf, das dem kriegsmüden, simulierenden Soldaten im April 1916 "Hysterie" attestierte).

Der Tod der Selektierten erfolgte durch Ersticken an Kohlenmonoxyd. Die Leichen wurden vor Ort verbrannt. Den Angehörigen wurde Ableben durch Lungenentzündung und dergleichen vorgelogen. Haar diente obendrein als Drehscheibe. Professor Walther Schultze und Regierungsrat Max Gaum vom Bayerischen Innenministerium organisierten die Verlegung eines Großteils der Bewohner der kirchlichen Heilerziehungs- und Pflegeheime. Über 500 Pfleglinge wurden allein aus Schönbrunn im Dachauer Moos abtransportiert, nur 293 überlebten. In der "Associationsanstalt" einer klösterlichen Tuberkuloseklinik waren behinderte Kinder untergebracht.

330 Kinder starben in "Kinderfachabteilungen"

Meist fuhren die Abholer mit den geisterhaften "grauen Bussen" vor, wenn die Franziskanerinnen beim Frühgebet waren. Manchmal rissen sich Kinder los und klammerten sich in Todesangst an Betreuerinnen. Der Anstaltsseelsorger Josef R. soll die Vorgänge an Kardinal Faulhaber gemeldet haben - von einer Reaktion wurde nichts bekannt. Die Korrespondenz mit dem Erzbischöflichen Ordinariat ist in Schönbrunn verschwunden.

Bekannt wurde indes eine mutige Predigt des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, gegen den staatlich befohlenen "Gnadentod". Es gab Unruhe im Volk. Daraufhin stoppte Hitler am 24. August 1941 die Aktion T4. Offiziell. Doch das Morden ging weiter - dezentral, heimlich, heimtückisch. Im Herbst wurden "Kinderfachabteilungen" in Eglfing-Haar eingerichtet; hier wurden 330 Kinder und Jugendliche ermordet, meist durch hohe Dosen Luminal in Breiform - und "notfalls" mit Schlafmitteln.

Eine weitere Anregung kam wieder aus Bayern. Auf einer Konferenz im Münchner Innenministerium am 17. November 1942 schlug der Direktor der Anstalt Kaufbeuren vor: "Wir geben ihnen kein Fett, dann gehen sie von selbst." In abscheulicher Logik wurden nun in Eglfing-Haar zwei Pavillons in "Hungerhäuser" umfunktioniert. Dort kamen 440 Menschen ums Leben. "Unruhig", "stumpf", "abgebaut" - so die ärztlichen Befunde, die Todesurteile waren.

Allein der Anstaltsleiter Pfannmüller, der auch als NS-Gauredner auftrat, soll in Haar 1119 "Geisteskranke" als lebensunwert beurteilt und Tausende von weiteren Tötungen empfohlen haben; vielen Kindern in den "Fachabteilungen" gab er selber die Morphinspritze. Er wurde 1961 vom Schwurgericht München zu fünf Jahren Haft verurteilt, doch war die Strafe großenteils durch Internierung und Untersuchungshaft abgegolten. Der Mann starb zehn Jahre später. Die weit verzweigte Anstalt führt heute den unverfänglichen Namen Isar-Amper-Klinikum München-Ost und betreut jährlich etwa 15.000 Patienten.

Die Täter machten später Karriere

Nachweislich neun Kranke hat der in Schönbrunn tätige Tbc-Arzt Hans-Joachim Sewering mit Diagnosen wie "Unruhe" oder "störendes Verhalten" nach Haar geschickt, vier der Frauen wurden umgebracht. Nach dem Krieg machte Sewering, früher SS- und NSDAP-Kämpe und jetzt aktives CSU-Mitglied, Karriere: Leiter einer Gemeinschaftspraxis und eines Fachkrankenhauses in Dachau, Honorarprofessor für Sozialmedizin, Mitglied des Bayerischen Senats, Präsident der Bundesärztekammer. Erst als er 1973 gar noch für die Präsidentschaft des Weltärzteverbandes kandidierte, kam seine Verstrickung in das NS-Euthanasieprogramm ans Licht. Dennoch rühmte der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, im Juli 2010 dem Verstorbenen nach, er habe sich um die "Wahrung ethischer Normen" verdient gemacht.


SS-Mann und Arzt: Hans Joachim Sewering.

Der Direktor der Kloster-Anstalt Schönbrunn, an deren Kirche heute eine kleine Tafel an das Geschehene erinnert, hat sich nach dem Krieg sogar als Widerstandskämpfer gebärdet. Er habe, behauptete Josef Steiniger, die Einrichtung des Ordens dem Zugriff der Nationalsozialisten entzogen. Erst 2010 konnte nachgewiesen werden, dass der hoch geehrte Geistliche, der 1965 als Hausprälat des Vatikan verstorben war, mit der Tötungsaktion der Nazis unmittelbar verbunden war, ja, dass er schon zuvor schon bei der Zwangssterilisation von geistig Behinderten eifrig mitgemacht hatte.

Neu und noch nachträglich erschreckend ist auch die Erkenntnis des Medizinhistorikers Hohendorf und seiner Mitarbeiter, dass sich im Verlauf des Krieges der Kreis der nationalsozialistischen "Euthanasie" immer mehr ausgeweitet hat: Nach den kranken "nutzlosen Essern" sollten Fürsorgezöglinge, Insassen von Arbeitshäusern, körperlich und psychisch erkrankte Zwangsarbeiter und sogar Menschen, die der Bombenkrieg seelisch zermürbt hatte, in Sammellager kommen - die letzte Station vor dem "Gnadentod". Vieles ist noch zu klären, auch zu Fragen der Verantwortung.

Bezirkstagspräsident Josef Mederer (CSU) hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die ermitteln soll, inwieweit Professor Anton Edler von Braunmühl, der bis 1957 die Klinik in Haar-Eglfing geleitet hatte, von den Verbrechen gewusst hatte. Schon 1947 hatte ihn der Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Erlangen verdächtigt, alte Nazis zu fördern.


Der Beitrag stützt sich auf das Buch "Außenseiter in München” von Karl Stankiewitz. Im Maximilianeum ist von 23. Januar bis 2. Februar (Mo bis Do, 9 bis 16 Uhr, Fr 9 bis 13 Uhr) eine Ausstellung zur Euthanasie zu sehen. Der Eintritt ist frei.

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