Leben im Wald: Rehaugen zum Frühstück

Karlsfeld - Zum Glück sind wir beim Flugzeugwrack geblieben. Nicht auszumalen, was passiert wäre, hätten wir den Marsch durch die Wüste zum 70 Meilen entfernten Bergwerk angetreten. Wobei, eigentlich recht einfach auszumalen: Wir wären verdurstet.
Während wir das Szenario "Flugzeugabsturz in der Wüste" durchsprechen , sitzen wir glücklicherweise sehr unabgestürzt in einem Waldgebiet nahe Karlsfeld bei München, bequem im halbhohen Gras.
Coach Markus Lehner - den wir duzen sollen, schließlich kämpfen wir gemeinsam ums Überleben - erklärt. Erzählt. Und zerpflückt die Überlegung der Gruppe, dass beim Absturz-Szenario die Salztabletten im imaginären Gepäck unverzichtbar sind, wegen der Mineralien. Stattdessen sind vier andere Dinge überlebenswichtig: "Sei rational wenn notwendig" lautet der Leitspruch. SRWN: Sicherheit, Rettung, Wasser, Nahrung.
In Abstand zum Flugzeugwrack gehen, entscheiden, ob eine aktive oder passive Rettung sinnvoller ist - in der Wüste ist es die passive: Warten -, sich um Flüssigkeit kümmern und dann um Nahrung.
Feuer machen, Navigieren, Unterschlupf bauen
Immer mehr Menschen fragen sich: Was kann ich praktisch?
Neun Menschen sind wir im Überlebenstraining des Dachauer Anbieters "Survival Unlimited": fünf aus München und Umgebung, zwei aus Baden-Württemberg, zwei aus Nordrhein-Westfalen angereist für den zweitägigen Kurs, in dem wir Feuermachen lernen, Navigieren anhand der Sterne, das Bauen von Unterschlupfen.
Warum wir das tun? "Um mal was zu können", sagen die meisten , während wir mit unseren Kompassen in der Hand durchs Unterholz stapfen, auf der Suche nach dem Zielpunkt, von dem wir nur wissen: Es ist ein Baum, der 564 Meter entfernt auf einer Lichtung steht, bei 131 Grad. Dass plötzlich ein Zaun die Luftlinie durchschneidet, wirft uns aus der Bahn.
Was kann ich eigentlich? Also: praktisch? Das frage ich mich vor allem in diesen Momenten, in denen meine zivilisatorische Ordnung zusammenbricht - also der Strom für ein paar Stunden ausfällt oder ich keine Streichhölzer finde.
Ähnliche Gedanken haben offenbar immer mehr Menschen: Die Zahl von Survival-Coachings und Intensivkursen fürs Überleben in freier Natur gibt es immer mehr. Allein in Bayern sind es knapp zehn Anbieter. Markus Lehner hat 2017 an 48 der 52 Wochenenden solche Kurse gegeben.
Als unsere Gruppe nach 20 Minuten die Lichtung immer noch nicht gefunden hat , fragt Uschi - außerhalb des Waldes arbeitet sie in einer Notaufnahme - pragmatisch einen Spaziergänger mit Hund nach dem Weg.
Ich grummele. Aber nun kennen wir die Richtung und schlendern, statt wie bisher zu stürmen. Also kann ich Löwenzahn pflücken. Aus den gerösteten Wurzeln wird am Morgen annehmbarer "Kaffee".
Kursleiter Markus ist so streng wie seine Frisur: Als wir später auf einer selbstgebauten Trage einen von uns zum nächsten Zielpunkt befördern sollen, marschiert er hinter uns her und sieht ruhig zu, wie wir kurz vorm Ziel falsch abbiegen.
"In der Wildnis warnt euch auch niemand", sagt Markus, Besitzer eines Fitnessstudios und ehemaliger Bundeswehrler. "Also: zurück dahin, wo ihr euch noch auskanntet."
Svenja und Moritz steigen Samstagabend aus: dringender Termin
Wir schimpfen, suchen, schwitzen - und kommen doch an. Wie Borkenpilze auf einem Baumstamm gereiht lauschen wir Markus. Er erzählt, dass man im Grunde alle Tiere essen kann, wenn man die Teile abtrennt, die nach Kampf aussehen. Eine dicke Spinne ohne Beine und Kopf: Runter damit!
Dann beginnt die Gemeinschaft des Waldes zu zerfallen. Svenja und Moritz, angereist mit dem Schlafsack in der Hand und Kompass-Handy-App statt Kompass, fällt plötzlich ein Termin am Abend ein, zu dem sie dringend noch müssen.
Und während wir aus einem Stück Magnesium Funken in Zundermaterial schlagen, nörgeln die Jungs aus NRW. Sie haben begriffen, dass wir in einem selbstgebauten Unterschlupf in einer Wiese übernachten werden. Ob sie nicht stattdessen in ihrem Auto. . .?
Gegen 2 Uhr liegen auch sie unter einer Plane, die zwischen Baum und Stock gespannt ist, die Zeltöffnung nach Osten, Richtung Sonnenaufgang.
Zum Freiluftfrühstück gibt es selbstgemachtes Stockbrot, zitronigen Fichtennadeltee und Löwenzahnkaffee - mit Wasser aus dem nahen Bach. Schwimmen in einem Bach Flusskrebse, ist das Wasser sauber, erklärt Markus. Auch raue Steine sind ein gutes Zeichen: Für Algenwachstum fehlen die Nährstoffe, die entstehen, wenn ein Kadaver im Wasser liegt.
Natürlich werden die wenigsten von uns nach einem Flugzeugabsturz über einer Wüste überleben, weil sie mit ihrem Taschenmesser einen Kaktus filetieren. Aber bei einer Autopanne im Wald wissen wir jetzt, dass Moos auf der Westseite von Baumstämmen am besten wächst, und es schlau ist, einen leeren Kanister dabei zu haben.
Und hat man den mal daheim vergessen: Sollte ein Reh herumliegen, kann man dessen Augen wegen der Flüssigkeit darin zu sich nehmen. Aber pssst! Sonst machen das alle!