Biotech-Firma in Martinsried forscht mit Gorilla-Viren gegen Corona
AZ: Herr Scholl, etwas salopp gefragt: Forscht zur Zeit nicht jeder, der noch einen Chemiebaukasten aus Schulzeiten besitzt, an einem Impfstoff oder einem Artzney gegen das neuartige Coronavirus?
Michael Scholl: Etwas salopp geantwortet: Schön wär’s! Wir brauchen viele verschiedene Ansätze und am Ende auch mehrere Produkte, um diese globale Herausforderung möglichst schnell zu meistern. Nicht alle werden erfolgreich sein, daher ist eine breite Initiative durchaus wünschenswert.

Weltweit gibt es rund 100 Programme, mit denen an einem Impfstoff gegen Covid-19 geforscht wird. Bei einem solchen in der Menschheitsgeschichte nie dagewesenen – auch finanziellen – Aufwand müsste das Ganze doch eine Frage von Monaten sein?
Von diesen 100 werden wir am Ende fünf bis zehn zugelassene Impfstoffe sehen. So ist zumindest die Hoffnung. Die Impfstoffe basieren auf unterschiedlichen Mechanismen und sind unterschiedlich in der Herstellung. Wir brauchen also möglichst viele Programme in der Pipeline.
300 Millionen bis eine Milliarde für Entwicklung eines Impfstoffs
Wie läuft das Auswahlverfahren? Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen?
Es gibt verschiedene Gründe, warum es Programme nicht schaffen werden: fehlende Wirksamkeit, fehlende Finanzierung, Probleme bei der pharmazeutischen Produktion.
Sie sprechen die Finanzierung an: Wie teuer ist die Entwicklung eines dieser Impfstoffe?
Das lässt sich nur grob beantworten: von 300 bis 400 Millionen Euro bis zu einer Milliarde, je nach Komplexität des Programms und des Wirkstoffs.
Wie decken Sie einen solchen enormen Finanzbedarf?
Das kann kein Unternehmen ohne öffentliche Gelder bewerkstelligen. Auch die großen Pharma-Unternehmen schaffen das nicht. Selbst Johnson & Johnson beispielsweise bekommt Gelder von der US-Regierung. Die ersten Schritte bei der Erforschung sind finanziell noch darstellbar, aber richtig teuer und komplex wird es bei den klinischen Programmen. Das funktioniert ohne Förderung nicht.
Gorilla-Virus infiziert Menschen, macht ihn aber nicht krank
Ihr Unternehmen arbeitet in einem Konsortium mit zwei anderen Biotech-Firmen – ReiThera in Rom und Univercells in Brüssel. Warum?
Alle drei Partner bringen unterschiedliche Expertise und technologischen Hintergrund mit an den Tisch: Die Italiener den eigentlichen Wirkstoff, das ist in unserem Fall auch ein Virus, also ein virusbasierter Impfstoff. Wir als Leukocare machen aus diesem Wirkstoff ein Produkt, indem wir eine Formulierung – oder Herstellungsmethode – entwickeln, die den Wirkstoff abfüllbar, lagerbar und am Ende spritzbar macht. Viren sind in Flüssigform sehr instabil, weshalb man andere Stoffe hinzufügen muss. Die Belgier sind dann für die Produktion zuständig. Es ist ganz wichtig, dass man am Ende in kurzer Zeit ausreichende Mengen herstellen kann.

Sie sprechen von einem anderen Virus, das den Menschen vor dem Coronavirus schützen soll. Wie funktioniert das?
Bei einer Impfung geht es immer darum, dem Körper Antikörper zu verschaffen, also körpereigene Abwehrstoffe gegen den Krankheitserreger. Dafür gibt es vier Ansätze. Nummer eins: Man nimmt das Virus, in dem Fall SARS-CoV-2, inaktiviert es, so dass es nicht mehr infektiös ist, damit der Körper Antikörper, Immunglobuline und Proteine, entwickelt und so eine Immunkompetenz aufbaut. Nummer zwei: Man stellt solche Antikörper direkt her, in Maschinen. Nummer drei: Der Weg, den die deutschen Biotech-Firmen BioNTech und Curevac verfolgen. Da wird RNA (Ribonukleinsäure, d. Red.) hergestellt und in den Körper injiziert, die in den Zellen die Produktion eines Proteins auslöst. Nummer vier: Unter anderem nutzen wir Viren, um die RNA gezielt in die Zellen reinzubekommen, statt sie zu spritzen. Dieses Virus ist so modifiziert, dass es den Menschen infiziert, aber nicht zu einer Krankheit führt. Es handelt sich um ein Gorilla-Virus.
Bitte?
Ein Virus, das nur beim Gorilla vorkommt. Wir nutzen es, weil der Gorilla auch ein Primat ist und dem Menschen ähnlich.
Scholl vermutet: Noch zwölf Monate bis zum ersten Wirkstoff
Wie lange wird es nun dauern, bis wir einen Impfstoff oder ein Artzney gegen SARS-CoV-2 haben werden?
Wir müssen uns höllisch davor hüten, diese beiden Dinge in einen Topf zu werfen. Bei Artzney haben wir eigentlich nur eine Chance, wenn ein existierendes Produkt – Remdesivir ist ein gutes Beispiel hierfür – auch gegen Covid-19 helfen sollte. Einen komplett neuen Wirkstoff zu entwickeln, dauert sehr viel länger als einen Impfstoff. Da muss man den ganzen Wirkmechanismus des Virus verstehen. Warum bekommen manche Leute Lungenentzündung und manche nicht? Warum scheinen Männer stärker befallen zu sein als Frauen? Spielen Hormone eine Rolle? Bei Impfstoffen geht es um die Sicherheit. Wir können in einer breit angelegten Impfkampagne nicht riskieren, dass schwere Nebenwirkungen oder gar Schäden bei gesunden Leuten auftreten. Deshalb braucht es absolute Sicherheit, bevor man spritzt. Ich gebe mal einen Tipp ab: Von jetzt an wird es noch zwölf Monate dauern, bis der erste Wirkstoff zugelassen ist. Wenn das klappt, ist das eine nie dagewesene Leistung unserer Industrie.
Damit ist die Weltbevölkerung von 7,7 Milliarden Menschen aber längst noch nicht immunisiert?
Ein guter Punkt. Die Industrieländer werden eine schnellere Durchimpfung haben als die Entwicklungsländer – vielleicht bis Ende 2021.
Wie groß sehen Sie die Gefahr, dass das Virus mutiert und der neue Impfstoff dann nicht mehr hilft?
Coronaviren sind grundsätzlich nicht dafür bekannt, dass sie schnell mutieren, daher wird die Gefahr von Experten als nicht allzu groß angesehen. Das Sars-Virus, das 2003 kam, ist noch heute in praktisch unveränderter Form vorliegend. Anders als HIV, diese Viren verändern sich ständig. Es gibt zwar große Fortschritte in der HIV-Forschung, aber der richtige Knaller ist deshalb noch nicht dabei gewesen.
Was winkt der Firma, die Impfstoff oder Artzney zuerst entdeckt? Dagegen dürfte jeder Eurojackpot verblassen, oder?
Ob Sie es glauben oder nicht: Der ökonomische Wert steht bei niemandem im Vordergrund. Wir haben angefangen zu arbeiten, ohne Verträge, geschweige denn, auf Basis eines Businessplanes. Finanzierung und Preisstrategie werden erst im Laufe der Zeit geklärt. Es geht jetzt darum, ein globales Problem zu lösen. Ich habe das Gefühl, dass sämtliche Beteiligte an den verschiedenen Programmen das genauso sehen.
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