Ukrainische Geflüchtete in München: "In Riem bleiben die Helfer weg"

München - Das neue Domizil draußen vor dem Ankunftszentrum auf der Messe in Riem schaut aus wie ein Bierzelt. An den Absperrgittern steht eine Traube Menschen in einer Schlange, viele Frauen mit Kinderwagen, Kleinkinder, ältere Menschen.
"Münchner Freiwillige" in die Messe umgezogen
Drinnen hinter den Zeltwänden: zwei Längsreihen mit je fünf Besprechungstischen, abgeteilt mit Stellwänden, dazu Laptops, Mobiltelefone. Rechts ein Wartebereich und ganz hinten an der Ausgangstür eine Abholzone für Gastfamilien.
Hierhin sind die Ehrenamtler des Vereins "Münchner Freiwillige" vergangenen Freitag umgezogen - aus dem vierten Stock im Elisenhof am Hauptbahnhof, wo sie in den letzten Wochen in einem improvisierten Büro Tausende Ukraine-Flüchtlinge in Unterkünfte bei privaten Münchner Gastfamilien vermittelt haben.
Bis dahin war die Zahl der freiwilligen Helferinnen und Helfer jeden Tag überwältigend groß - und gut organisiert. Über "Doodle"-Listen im Internet hatten bis zu 32 Ehrenamtler sich pro Schicht für die Dienste eingetragen, dazu zehn bis 15 ehrenamtliche Übersetzungshelfer, die Ukrainisch sprechen oder auch Russisch, was die meisten Ukrainer verstehen. Das ganze in drei Schichten à vier Stunden, von morgens acht Uhr bis spät in den Abend hinein. Also 120 bis 130 Freiwillige jeden Tag.
Das sieht seit dem Umzug aus der Stadtmitte hinaus in den Münchner Osten nun anders aus. Die AZ hat mit Thomas Koenen (62) gesprochen, einem der verantwortlichen Schichtleiter des Vereins vor Ort.
AZ: Herr Koenen, in der achten Woche seit Kriegsbeginn schrumpft die Zahl der Helfer, stimmt das?
THOMAS KOENEN: Leider ja, die Helfer bleiben schlagartig weg. Die erste Schicht am Montagmorgen nach dem Umzug mussten wir ausfallen lassen, weil statt 32 Helfern und zwölf Übersetzern nur ein Helfer und ein Dolmetscher da waren.
Wie viele Vermittlungen haben Sie an dem Tag geschafft?
Wir haben 60 Menschen vermittelt. In der Anfangszeit im Elisenhof haben wir bis zu 400 pro Tag geschafft.

Koenen: "Wir müssen unbedingt wieder Helfer mobilisieren"
Liegt das nur am Standortwechsel, oder macht sich unter den Freiwilligen inzwischen auch einfach Ermüdung breit?
Die Entfernung macht viel aus, es sind ja doch knapp zwölf Kilometer aus der Stadtmitte hierher. Dazu kommt wohl auch, dass jetzt einige der Ehrenamtler in den Osterurlaub gefahren sind. Und ja, nach sieben Kriegswochen ist die erste Euphorie, mitzuhelfen, vielleicht auch vorbei. Wir müssen unbedingt wieder Helfer mobilisieren, vor allem Übersetzer, damit wir sinnvoll weitermachen können.
Wie sind die Abläufe im Zelt?
Am Empfang prüfen wir, wer gehört zusammen, wer hat Tiere dabei, und wir prüfen die Pässe. Jedes zusammengehörige Grüppchen kommt dann an einen der zehn Tische. Dort sitzt jeweils ein Dolmetscher mit zwei Helfern. Einer davon macht die Datenerfassung und registriert jeden einzelnen in unser System, auch die Kinder. Der zweite telefoniert parallel infrage kommende Gastfamilien ab, die wir als Zimmeranbieter in unserem System haben.
"Wir haben Freiwillige von der Studentin bis zum Rentner"
Bis Sie einen passenden Gastgeber finden - wie lange dauert das?
Manchmal telefonieren wir vier, fünf, sechs mögliche Gastfamilien durch.
Wie viele Zimmeranbieter gibt es denn überhaupt noch?
In der Datenbank haben wir noch rund 2.500 unvermittelte Unterkünfte, aber nicht jeder passt ja mit jedem zusammen. Manche Gastgeber nehmen gern kleine Kinder auf, andere nicht. Manche trauen sich nicht zu, eine geschwächte Großmutter mit aufzunehmen. Manche Flüchtlinge möchten auch in eine bestimmte Gegend in Bayern, weil dort schon Verwandtschaft untergekommen ist. Wenn es nach eineinhalb Stunden nicht klappt, geben wir für den Tag auf. Dann müssen die Betroffenen an einem der nächsten Tage wiederkommen.

Über die Nacht bleiben sie dann in einer der Notunterkünfte - wie in den zwei Messehallen nebenan?
Genau. Schön ist das nicht, Familien mit Kindern zusammen mit 2.000 anderen Menschen in eine Halle zum Schlafen zu schicken, aber manchmal lässt sich das eben nicht vermeiden.
Ihre Mit-Ehrenamtler, was sind das für Menschen?
Engagierte Münchnerinnen und Münchner jeden Alters und aller Berufe, von der Studentin bis zum Rentner. Viele haben auch einen Vollzeitjob und lassen sich vom Arbeitgeber für das Ehrenamt freistellen. Eine große Firma hat uns mal neun Leute samt Abteilungsleiterin zum Helfen geschickt. Einer der Mitarbeiter sagte am Ende, das hier seien seine härtesten vier Stunden Arbeit gewesen, seit er in der Firma ist.
"Wir haben es mit menschlichen Schicksalen zu tun"
Was ist die besondere Herausforderung für alle, die hier tätig sind?
Es ist die Summe vieler emotionaler Eindrücke. Ein permanentes Stimmengewirr, weinende, aber auch spielende Kinder, Hunde, Katzen, sehr alte Menschen. Oft gibt es besondere Fälle zu lösen: Wohin mit jemandem, der an Krebs erkrankt ist und dringend eine Chemo braucht? Oder Rollstuhl fährt und eine barrierefreie Unterkunft braucht?

Wie bereiten Sie Neulinge unter den Helfern auf all das vor?
Ich mache vor jeder Schicht bei der Einweisung auch etwas, was ich "Fünf Minuten Emotionalität" nenne, denn wir machen hier ja nicht nur bürokratische Vermittlung, wir haben es ja mit menschlichen Schicksalen zu tun. Ich sage dann: Denkt dran, wir wissen nicht, was die Menschen erlebt, gesehen, gehört haben. Viele haben Männer, Väter, Brüder im Krieg gelassen. Einmal fragte ein Helfer: Wo haben die Leute denn ihr Gepäck? Bis ihm klarwurde, es ist die Tasche in der Hand, mehr haben viele nicht mitbringen können.
Der Fall, der Ihnen am meisten nahe gegangen ist?
Eine Frau, Mitte 50, die allein hier war und die wir auch in eine Gastfamilie vermittelt haben. Die Gastgeberin rief am nächsten Tag an, weil die Frau wieder weggegangen war.
"Eine ukrainische Mutter ist wieder zurück in die Ukraine gefahren"
Was ist passiert?
Es war eine ukrainische Mutter, deren Mann und Sohn im Krieg kämpfen. Sie hat sich plötzlich geschämt, hier in Sicherheit zu sein und anderen zur Last zu fallen, während ihre Liebsten jede Sekunde in Gefahr waren. Das hat sie nicht ausgehalten. Sie wollte lieber wieder mit dem Zug in die Ukraine zurückfahren, um notfalls mit ihrem Mann und Kind zusammen zu sterben. Das sind heftige Situationen, auch für uns.
Wie gehen Sie damit um?
Ich versuche dann an die schönen Momente hier zu denken. An den jungen Helferkollegen, der sich entschlossen hat, eine Mutter mit behindertem Mädchen selbst aufzunehmen, was für eine Erleichterung im Gesicht der Mutter. Oder ich denke an die Gastfamilien, die zur Abholung ihrer Gäste sogar Blumensträuße zur Begrüßung mitbringen. Da wird einem das Herz weit. Dann geht es mir gut, weil ich dann das Gefühl habe, dass die Menschlichkeit am Ende doch siegt.
Wer sich ehrenamtlich als Helfer oder Übersetzer bei der Unterkunftsvermittlung engagieren will, kann sich für Schichtdienste eintragen: muenchner-freiwillge.de