U-Bahn-Schubser-Prozess: Zehntel Sekunde zwischen Leben und Tod

MÜNCHEN - Nach Überzeugung des Gerichtsgutachters Hubert Birlmeier ging es um zehntel Sekunden: Um ein Haar hätte die Tat des U-Bahn-Schubsers Ludwig D. tödliche Folgen gehabt.
Zweiter Prozesstag gegen den U-Bahn-Schubser Ludwig D.: „Eine zehntel Sekunde später und der Oberkörper wäre zwischen die Waggons gefallen. Der Kopf wäre auf den Kupplungsbereich geschlagen. Die Beine auf die Schienen, die vom ersten Laufrad erfasst worden wären“ – dieses Horrorszenario schilderte gestern der Gerichtsgutachter und Diplom-Ingenieur Hubert Birlmeier im Mordversuchs-Prozess vor dem Münchner Schwurgericht.
Gutachter: „Da hat der Schutzengel einen dicken Daumen dazwischen gehalten.“
Rückblick: Am 2. Juni 2008, gegen 14.20 Uhr, schubste der Angeklagte (70) die Schülerin Dimitra T. (damals 13), als die U3 an der Haltestelle Petuelring einfuhr. Wie berichtet, fiel das Mädchen zwischen die zusammengekoppelten Waggons. Durch ein Wunder kam sie mit einer Beule und ein paar Schrammen davon.
Gutachter Birlmeier erklärte, wie es dazu kommen konnte: „Sie prallte mit Kopf und Armen gegen die gewölbte Glasscheibe des vorderen Waggons. Dann prallte sie gegen die Führerhausscheibe des nachfolgenden Waggons und wurde auf den Bahnsteig zurückgeschleudert.“ Hätte der Angeklagte nur ein Bruchteil früher geschubst, wäre Dimitra T. heute tot oder schwer verletzt. Birlmeier: „Da hat der Schutzengel einen dicken Daumen dazwischen gehalten.“
Nach seinen Berechnungen fuhr die U-Bahn, die automatisch gebremst und gestoppt wird, noch mit 20 Stundenkilometer, als die Tat passierte. Der Abstand zwischen den Waggons beträgt 90 Zentimeter. „Dazwischen kann ein Oberkörper problemlos verschwinden“, sagt Birlmeier.
Die U-Bahn fuhr noch 20 km/h schnell
Er verdeutlichte auch, dass schlimmste Verletzungen hätte auftreten können, wenn die Schülerin gegen die Außenwand geprallt wäre. „Reflexartig setzt man den Fuß nach vorne, wenn man von hinten geschubst wird. Da hätte der Fuß zwischen Bahnsteig und Zug geraten können“, sagt Birlmeier. Folge: „Der Zug hätte den Körper immer weiter in Richtung Gleise hineingezogen – bis zum Kopf“, erklärt Birlmeier. Er kennt so einen Fall aus seiner Praxis.
Strafverteidiger Peter Guttmann will den Vorwurf Mordversuch entkräften. Er stellte gestern den Antrag, das Video nochmals zu prüfen, ob der Rentner vor der Tat angerempelt wurde und er im Reflex, als die Schülerin auf ihn zu kam, das Mädchen von sich weggeschubst hat. Der Prozess dauert an.
Torsten Huber