Trotz guter Noten: Yasir (13) soll sitzenbleiben

Yasir ist chronisch krank und fehlt oft in der Schule. Trotzdem schreibt er so ordentliche Noten, dass er versetzt wird. Doch die Schule will, dass er die 6. Klasse wiederholt. Das macht ihn fertig
Jasmin Menrad |
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Yasir sitzt im Rollstuhl. Aber im Tischkicker besiegt er die Mama trotzdem locker.
Gregor Feindt 2 Yasir sitzt im Rollstuhl. Aber im Tischkicker besiegt er die Mama trotzdem locker.
Jeden Donnerstagmittag demonstriert Yasemin Aydin vor dem Kultusministerium für die Rechte chronisch kranker Kinder.
Gregor Feindt 2 Jeden Donnerstagmittag demonstriert Yasemin Aydin vor dem Kultusministerium für die Rechte chronisch kranker Kinder.

München - Heute geht es Yasir schlecht. Der Dreizehnjährige hat Kopfschmerzen, ihm ist schwindelig, sein linkes Bein pocht, brennt und zieht. Die Zehen wurden amputiert, das Bein ist acht Kilo schwer. Auch Yasirs linke Körperhälfte ist gezeichnet von seiner Krankheit, der AV-Malformation, die Venen und Arterien sind geschwollen. Immer. Deshalb sitzt Yasir meist im Rollstuhl.

Bis zum Sommer hat Yasir versucht, ein normales Teenie-Leben zu führen. Hat seine Mama Yasemin Aydin im Tischkicker und Schach besiegt, ist mit Freunden ins Kino gegangen und hat Englisch gepaukt. Bis zum Sommer ist er gerne in die Schule gegangen, wenn sein Kreislauf mitgespielt hat oder er nicht im Krankenhaus war. Weil er chronisch krank ist, hatte er 80 Fehltage vergangenes Schuljahr.

Doch Yasir hat sich reingehängt. Im Krankenhaus, beim Arzt, daheim: Er hat überall gelernt. Auch die Mama hat mit ihm geübt, er hat Nachhilfe bekommen. Fünf Stunden die Woche wurde er zu Hause von seinen Lehrern unterrichtet. Die Mühen haben sich ausgezahlt: Seine Noten sind so, dass er in die siebte Klasse versetzt wird. Eigentlich.

Denn die Lehrerkonferenz hat entschieden, dass Yasir die sechste Klasse wiederholen muss. Das wird nicht als Wiederholen gezählt, er darf eine Klasse so oft besuchen, wie er möchte. Oder muss. Birgit Reiter, Schulleiterin vom Maria-Theresia-Gymnasium am Regerplatz sagt, das Sitzenbleiben sei „sehr intensiv“ diskutiert worden. Die Entscheidung sei im Interesse von Yasir gefallen, sagt sie.

Yasir sieht das anders. „Ich will nicht wieder in die 6. Klasse. Ich bin 13 und die sind alle klein in der neuen Klasse“, sagt er und zieht seine Bettdecke über den schmerzenden Kopf. Reiter begründet die Entscheidung mit pädagogischer Erfahrung. „Wir haben uns gefragt, ob er das kann, was er können muss. Ob er im nächsten Schuljahr positive Erlebnisse haben wird. Wir glauben das nicht“, sagt die Schulleiterin. Seit dieser pädagogisch begründeten Entscheidung geht es bergab mit Yasirs Gesundheit. Tagelang liegt er im Bett bei geschlossenem Rollladen, seine Beschwerden sind schlimmer geworden. Plötzlich hat er ständig Nasenbluten. In seiner neuen Klasse war er zweimal. Er will da nicht hin.

Deutschlandweit diskutieren Politiker über das Sitzenbleiben. In Hamburg ist es schon abgeschafft, Niedersachen will es abschaffen. In Bayern macht sich OB Christian Ude dafür stark, dass Schüler nicht mehr wiederholen müssen. Die CSU wehrt sich dagegen. Aber sollte das Sitzenbleiben bei einem Regierungswechsel abgeschafft werden – für Yasir kommt es zu spät.

Seine Mutter klagt gegen die Entscheidung der Schule und stellt einen Eilantrag. Der wird abgelehnt. Yasemin Aydin wendet sich an den Kultusminister und an den Bundesminister Wolfgang Schäuble, weil der auch im Rollstuhl sitzt. Sie bricht in Tränen aus vor einem Lehrer, obwohl das nicht ihre Art ist. Wenn sie das sagt, glaubt man es. Die Erzieherin redet viel, und wenn sie von den Ungerechtigkeiten erzählt, die Yasir zugemutet werden, dann redet sie auch laut. Jetzt hat sie eine Petition geschrieben und sammelt Unterschriften, um die Rechte von chronisch kranken Kindern zu stärken. Unterschreiben kann man unter anderem in der Pariser Straße 27 im Fresh House.

Yasemin Aydin erzählt, dass seine Klasse in der Grundschule im oberen Stockwerk war. Und dass es Monate gedauert hat, bis der Antrag durch war, dass die Kinder im Erdgeschoss unterrichtet werden. Sie erzählt, dass Yasir auf ein Musikgymnasium wollte. Er hat drei Jahre im Tölzer Knabenchor gesungen. Aber im Musikgymnasium gab es keinen Aufzug, die Musikräume sind im vierten Stock.

Yasir indes greift sich immer wieder mit einer unbewussten Bewegung an den Kopf, an die Stirn. „In der Grundschule hatte ich acht Freunde, mit denen war ich schwimmen, als es noch ging und wir haben Fußball geguckt“, sagt er und grinst. Fußball schaut er immer noch gerne, mit seiner Tante, die beiden sind Barca-Fans.

Von den Freunden ist nur einer geblieben. Als er aufs Gymnasium gewechselt ist, hat die Mutter darum gebeten, ihn mit seinen Freunden in eine Klasse gehen zu lassen. Weil Yasir es eben schwerer hat, Freunde zu finden. Yasemin Aydin hat die Namen seiner Freunde aufgeschrieben und sich versichern lassen, dass es klappen wird. Am Tag der Einschulung die Enttäuschung: Sieben seiner Freunde sind in einer anderen Klasse. Trotzdem geht Yasir gerne in die Schule, mag Englisch und Mathe am liebsten.

Mit leiser Stimme sagt Yasir, dass er gestern keinen Matheunterricht zu Hause hatte. Weil der Lehrer nur an einem bestimmten Tag von 16 bis 17 Uhr kann. Sieben Stunden Privatunterricht stehen ihm in der Woche zu, doch die Lehrer sind wenig flexibel. Yasir hatte Schmerzen, große Schmerzen. Als sein Körper wieder konnte, konnte der Lehrer nicht mehr. „Als er noch in der Schule war, da hat er sich Mühe gegeben. Jetzt hat er die Hoffnung verloren und kämpft nicht mehr“, sagt seine Mutter. Sie macht sich Sorgen um ihren Sohn, will mit ihm zu einem Psychologen, weil er sich aufgegeben hat.

Dass die Kinder in seiner alten Klasse manchmal Dickfuß zu ihm gesagt haben, hat Yasir einfach runtergeschluckt. „Wenn Erwachsene kein Verständnis für meine Krankheit haben, wie sollen es dann die Kinder haben?“, fragt er. Früher, da wollte Yasir Musiklehrer werden. Jetzt würde es ihm reichen, in einem Büro zu arbeiten. Lehrer, das ist kein erstrebenswerter Beruf mehr für ihn. Einem Teenager, der mal so gerne in die Schule gegangen ist.

 

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