Trauriges Schicksal: Gefangen in der eigenen Wohnung

Seit November hat Leonore Kasberger ihr Zuhause nicht mehr verlassen. Die Treppe ins Erdgeschoss ist für die 83-Jährige ein unüberwindbares Hindernis.
Annika Mayer |
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Gefangen in den eigenen vier Wänden: Leonore Kasberger in ihrer Schwabinger Wohnung.
Petra Schramek Gefangen in den eigenen vier Wänden: Leonore Kasberger in ihrer Schwabinger Wohnung.

Seit November hat Leonore Kasberger ihr Zuhause nicht mehr verlassen. Die Treppe ins Erdgeschoss ist für die 83-Jährige ein unüberwindbares Hindernis. Die Schwabingerin würde deshalb gern in ein barrierefreies Pflegeheim umziehen – doch dafür wäscht sie sich 19 Minuten zu schnell.

SCHWABING - Leonore Kasberger wohnt seit 37 Jahren im zweiten Stock eines Schwabinger Mietshauses. Sie hat ihre zwei Zimmer immer geliebt. Doch jetzt sind sie für die 83-Jährige zum Gefängnis geworden. Seit November hat die gehbehinderte Frührentnerin ihr Zuhause nicht verlassen. Sie schafft die Holztreppe ins Erdgeschoss nicht mehr.

Deshalb würde Leonore Kasberger gerne in ein barrierefreies Pflegeheim umziehen. Dafür müsste der Medizinische Dienst der Barmer-Krankenkasse (MDK) ihr die Pflegestufe1 bescheinigen. Doch die Münchnerin ist bei der Körperpflege zu schnell. Sie braucht genau 27 Minuten, um sich zu waschen. Das sind 19Minuten zu wenig. Voraussetzung für die Einstufung als Pflegefall wäre, dass sie mehr als eine Dreiviertelstunde mit Seife und Waschlappen beschäftigt ist.

Momentan prüft das Schiedsgericht ihrer Krankenkasse den Fall. Sollte Kasbergers Einspruch abgelehnt werden, will die Rentnerin vor das Sozialgericht ziehen.Früher war Leonore Kasberger eine taffe Frau: 30 Jahre lang arbeitete sie als Kinderkrankenschwester. Ein Vierteljahrhundert engagierte sie sich für die Deutsche Parkinson-Vereinigung.

Dann streikt ihre Niere, eitert – und muss schließlich entfernt werden. Mit 50 Jahren wird Leonore Kasberger in Frührente geschickt. Sie bleibt aktiv und besucht einen Senioren-Computer-Club, übt den Umgang mit Textprogrammen, entdeckt das Solitaire-Spiel, lernt, im Internet zu surfen und E-Mails zu schreiben. „Das Internet ist ein Segen für mich”, sagt sie. Denn heute ist das Netz – neben ein paar Freunden – ihre einzige Verbindung zur Außenwelt.

Im Jahr 2000 versagen auch ihre Knie den Dienst. Leonore Kasberger bekommt zwei künstliche Gelenke eingesetzt. 2007 muss ihre rechte Schulter operiert werden. Sie gibt trotzdem nicht auf: Sie kauft sich ein Elektromobil, eine Art Motorroller auf vier Rädern. „Meinen roten Flitzer” nennt sie das Gefährt, auf dem sie fortan durch die Stadt zuckelt. Sie ist lange nicht mehr damit gefahren.

Irgendwann werden die Schmerzen in ihren Knien so stark, dass sie nur noch die nötigsten Wege geht. Wegen der mangelnden Bewegung nimmt sie zu, immer mehr Kilos drücken auf die schmerzenden Gelenke, immer seltener kann Leonore Kasberger sich aufraffen, ein paar Schritte zu laufen – ein Teufelskreis.

Im November 2011 verlässt sie ihre Wohnung zum letzten Mal. Wegen einer Herzinsuffizienz muss sie im Klinikum Bogenhausen behandelt werden. Vier Sanitäter müssen sie die Treppe hinunter- und später wieder herauf in den zweiten Stock tragen. Sie hält die Schmerzen beim Treppensteigen einfach nicht mehr aus.

Mittlerweile ist die Schwabingerin abhängig von vielen Hilfen, menschlich und finanziell. Ihre Rente beträgt inklusive Zuschüssen 1100 Euro. Davon gehen für Miete, Gas und Strom 734 Euro weg. Das Sozialamt stellt fünf Stunden pro Woche eine Haushaltshilfe. 120 Euro muss Leonore Kasberger selbst für einen Pflegedienst berappen. Die Helfer waschen ihre Haare und duschen sie wöchentlich. Mehr geht nicht. Sie komme sich deshalb „ganz schmutzig vor”, sagt Leonore Kasberger verschämt.

Ein weiterer Posten: etwa 500 Euro Mietgebühren im Jahr für ihr elektrisches Bett. Sie hätte sich auch ein „Seniorenbett aus dem Möbelhandel kaufen können”, begründet die Barmer, warum sie nicht für diese Kosten aufkommt. Doch Leonore Kasberger ist auf den elektrischen Absenkmechanismus angewiesen. „Sonst schaffe ich es nicht, mir meine Strümpfe anzuziehen”, sagt sie.

Weil sie das Haus nicht verlassen kann, bestellt sich die Seniorin ihre Kleidung über Kataloge. Mit Behördenvertretern spricht sie am Telefon oder schreibt ihnen Briefe. Wenn sie sich einsam fühlt, surft Leonore Kasberger im Internet, checkt ihre E-Mails oder schaut auf die Homepage „Falken München”. Per Webcam kann sie dort eine Turmfalkenfamilie im Planhochhaus an der Blumenstraße beobachten.

Manchmal kommt ein Mitarbeiter der Stadtbücherei vorbei und bringt ihr ein paar Bücher. Den Nachmittag verschläft die alte Dame meist. Abends sieht sie fern. Das Sozialamt zahlt der Frührentnerin 4,75 Euro zum Essen auf Rädern für fünf Tage. An den Wochenenden gibt’s Fertiggerichte, die ihr Freundinnen vorbei bringen. Eine davon ist Luise Löhers (74), die im selben Haus wohnt. Eine andere Freundin wohnt in Herrsching am Ammersee.

Auch deshalb möchte Leonore Kasberger ins dortige „Johanniter-Haus” einziehen, das aber ausschließlich Pflege-Patienten aufnimmt. Und zu denen gehört Leonore Kasberger angeblich noch nicht. Zwei Mal hat der Medizinische Dienst sie schon überprüft. Jedes Mal hat sie sich „zu schnell” gewaschen. „Ich habe den Verdacht, dass dahinter System steckt”, sagt Luise Löhers.

Ausgabe für Ausgabe leert Leonore Kasberger ihre Bücherregale, verschenkt die Bände an Bekannte, alles soll weg. Sie möchte für das Pflegeheim bereit sein. Auch wenn Freundin Luise Löhers glaubt, dass der Bescheid des Schiedsgerichts frühestens in einem halben Jahr eintrudelt.

Wie wird Leonore Kasberger reagieren, wenn er positiv ausfällt? Sollte der Bescheid gut für sie ausfallen, müsste sie nochmal vom MDK geprüft werden. Was, wenn sie nach dieser Prüfung ihre Wohnung endlich verlassen darf? Notgedrungen. Nach 37 Jahren. „Dann heul’ ich, das weiß ich jetzt schon – vor Kummer.” Doch Leonore Kasberger weiß auch: Im Heim ist alles barrierefrei. Dann kommt sie wieder vor die Tür.

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