Toni Netzle: Münchens Kult-Wirtin wird 90

Über drei Jahrzehnte lang war sie Münchens Kult-Wirtin. Und das, obwohl sie keine Kneipen mag. Am Mittwoch wird Toni Netzle, die den Alten Simpl zur Legende machte, 90 Jahre alt. Noch immer ist die ehemalige Betreiberin und Schauspielerin kreativ. Stillsitzen ist nix für Toni Netzle.
Gerade arbeitet sie an einem Buch, aber "als Ghostwriterin, also darf ich dazu nichts sagen". 2010 erschien ihr reichbebildertes Werk "Mein Alter Simpl" (Hirschkäfer Verlag).
Alter Simpl in München: Die VIP-Liste ist unendlich
Im Simpl in Schwabing gingen von 1960 bis 1992 alle ein und aus: internationale Größen, Spitzenpolitiker, Filmemacher, gekrönte Häupter, Künstler, Journalisten. Von Brigitte Bardot und Gina Lollobrigida über Rock Hudson und Kaiserin Soraya bis zu Bernd Eichinger, Helmut Fischer, Elvis Presley, Donna Summer, Willy Brandt und Franz Josef Strauß (mit seiner Familie). Die VIP-Liste ist unendlich. Einige hatten reservierte Stammplätze.
Die AZ sprach mit Antonie "Toni" Netzle, einer erfrischend unprätentiösen Powerfrau.
AZ: Liebe Frau Netzle, wie werden Sie denn feiern?
TONI NETZLE: Ach, ja. Ich hatte ein Fest im Café Lebenslust mit Freunden und Wegbegleitern geplant, einige davon kenne ich noch aus den Simpl-Zeiten, andere sind wie ich Mitglied auf der Kulturplattform jourfixe-muenchen. Mit deren Leiterin Gaby dos Santos bin ich befreundet, wir haben auch die Reihe multimedialer Lesungen "Nicht immer Simpl" zusammen gemacht. Ich bin ja nicht mehr die Jüngste und wollte alle noch mal sehen. Wegen dem Coronavirus hat mir aber mein Arzt schon vor den neuen Regeln geraten, abzusagen – das macht mich schon traurig.
90 Jahre ist ein stolzes Alter. Wenn Sie zurückblicken, was waren Ihre Höhepunkte?
Da gibt es einen General-Höhepunkt, nämlich, dass wir seit 75 Jahren keinen Krieg mehr haben. Das war das Wichtigste für mich, weil ich ja ein Kriegskind bin. Ich bin im Krieg großgeworden. Ich bin niemand, der sich beirren oder verrückt machen lässt. Wie jetzt, mit dem Virus, ich konnte es gar nicht fassen, als ich im Fernsehen gesehen habe, dass die Läden leergekauft sind. Ich musste gleich lachen. Das gab es nicht mal 1939, obwohl mindestens die Hälfte die Bevölkerung wusste, dass es Krieg gibt. Ich habe so eine Pandemie noch nie mitgemacht, kann es nicht beurteilen.

Toni Netzle: "Damals haben die Leute miteinander geredet"
Aber auch Ihr Alter Simpl war ein Höhepunkt.
Ja, ein langer Höhepunkt! Da gibt es viele Anekdoten. Udo Jürgens war oft zu Gast – und Robert De Niro und Harvey Keitel hätte ich fast rausgeworfen, weil ich sie für Penner hielt. (lacht) Im Simpl wurde viel bewegt. Abi und Esther Ofarim hatten dort ihren allerersten Auftritt in Deutschland, der ihre Karriere ins Rollen brachte. Brigitte Bardot brachte den Simpl und halb München in Aufruhr, als sie 1968, im Anschluss an die Filmpremiere "Shalako", ein großes Fest bei uns veranstaltete. Es herrschte so ein Andrang, dass die Polizei ab 22 Uhr die Straße von einer Kreuzung bis zur nächsten sperren musste. Plötzlich hatte ich so viele Freunde, die ich überhaupt nicht kannte, alle meldeten sich bei mir und wollten Eintrittskarten.
Sie brachten Menschen zusammen, als Vorreiterin des Netzwerkens – die meisten sind nur Ihretwegen gekommen. Tempi passati! Es kannten sich fast alle untereinander, so ein Lokal gibt es nicht mehr, das ist sehr schade. Der Witz am Simpl war, dass die Leute miteinander geredet haben. Ja, damals haben die Leute miteinander geredet! Das ist heute leider nicht mehr der Fall. Ich war letztens eingeladen in ein In-Restaurant, es war proppevoll mit jungen Leuten, neben jedem lag ein Smartphone, einige hatten ihre Laptops dabei – da war großes Schweigen.

Toni Netzle: "Mein Kopf ist immer in Arbeit"
Ein Handy haben Sie aber auch, oder?
Da schwindle ich gerne und sage Nein, obwohl ich ein altes habe. Das ist aber nur für Notfälle und für unterwegs. Wer mich erreichen will, erreicht mich auch so.
Sie waren jahrelang nachts tätig, haben Sie als Ausgleich besonders gesund gelebt?
Ich ernähre mich bewusst, hab auch im Simpl lieber Tee statt Alkohol getrunken. Bis 1997 habe ich sehr viel gearbeitet, ab da habe ich es etwas lockerer angehen lassen. Was wichtig ist: Ich schlafe acht bis neun Stunden. Nicht nachts, ich gehe noch immer erst gegen vier Uhr morgens ins Bett. Ich bin ja mehr als 32 Jahre lang nie vor sechs Uhr schlafen gegangen, so einen Rhythmus bekommt man nie mehr los. Außerdem gibt es zwei Wörter, die ich nicht kenne: "stolz" – das ist mir zu arrogant – und "Langeweile". Noch nie war mir auch nur eine Minute in meinem Leben langweilig. Selbst wenn ich irgendwo warten muss, denk ich mir Geschichten aus. Mein Kopf ist immer in Arbeit.
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Am Mittwoch lesen Sie Teil 2 des Geburtstags-Interviews: Toni Netzle über Hausverbote im Simpl, Promi-Kinder – und wovor sie Angst hat.