Todesschütze von Dachau liegt im Sterben

Dem Angeklagten Rudolf U. stirbt ein Bein ab, doch er will keine medizinische Hilfe. Die Ärzte rechnen mit dem baldigen Tod des 55-Jährigen, der im Januar Tilman Turck (31) erschoss.
München - "Im Namen des Volkes...", einen Urteilsspruch mit diesem Worten wird der Todesschütze von Dachau aller Wahrscheinlichkeit nie hören. Am Freitag setzte das Schwurgericht den Mordprozess gegen den Mann, der am 11. Januar im Dachauer Amtsgericht den jungen Staatsanwalt Tilman Turck erschoss, wegen „derzeitiger Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten“ ab. Dass Rudolf U. (55) wieder verhandlungsfähig wird, ist nicht zu erwarten. Im Gegenteil: „Er liegt im Sterben“, sagte Jochen Menzel, Vize-Chef der Justizvollzugsanstalt Stadelheim, am Freitag der AZ.
In der Krankenabteilung der Justizvollzugsanstalt herrscht Ausnahmezustand. Rudolf U. ist bereits vor Monaten aus seiner Zelle dorthin verlegt worden. Der frühere Transportunternehmer ist schwer zuckerkrank, im Frühsommer musste ihm der linke Unterschenkel amputiert werden. Er verlor im Gefängnis fast 80 Kilo Gewicht, seine Venen im Bein werden nicht richtig versorgt. Nun müsste auch sein rechtes Bein dringend abgenommen werden. Der Untersuchungshäftling hat ein offenes Geschwür und bereits eine Blutvergiftung mit Fieber. Doch Rudolf U. verweigert jede ärztliche Hilfe.
Am 10. September hat der Häftling eine Patientenverfügung unterschrieben. „Sie beinhaltet, dass er jede heilende oder lebenserhaltende Maßnahme ablehnt“, sagt sein Anwalt Maximilian Kaiser aus Landshut. Rudolf U. will nicht künstlich ernährt oder beatmet, reanimiert und eben auch nicht operiert werden. „Er will nur noch in Würde sterben“, sagt der Anwalt.
Bereits als Rudolf U. voller Hass auf die Justiz im Dachauer Amtsgericht um sich schoss, soll er mit seinem eigenen Leben abgeschlossen haben. Seitdem er in U-Haft ist, äußert er immer wieder, dass er nur noch sterben will. Inzwischen isst und trinkt er kaum noch etwas. Anwalt Maximilian Kaiser bezeichnet das Verhalten seines Mandaten als „Suizid auf Raten“.
Die Amtsärzte sind sich einig: Zum jetzigen Zeitpunkt kann Rudolf U. nur noch eine Amputation des rechten Beines vor einem multiplen Organversagen und dem baldigen Tod bewahren. Mehrere Male wurde der Patient bereits ins Krankenhaus gebracht. Doch das Einzige, worauf er sich einlässt, ist Morphium gegen seine Schmerzen, die höllisch sein müssen. Sein Bein beginnt bereits abzusterben. „Er verwest bei lebendigem Leib“, heißt es in Stadelheim. Und der Patient ist bei Bewusstsein.
Der 55-Jährige musste inzwischen einzeln in einem Raum untergebracht werden. Ständig muss gelüftet werden. „Der Geruch ist für Mitgefangene und das Personal nicht mehr zumutbar“, sagt Jochen Menzel. Das Personal leide unter Würgereiz, wenn es den Raum betrete. Die Anstalt bemüht sich um einen Platz in einem Sterbehospiz. Doch das gestaltet sich schwierig. Einen derartigen Fall eines Häftlings gab es bundesweit noch nie.
Rudolf U. gegen seinen Willen zu operieren, wäre eine Straftat. „Jeder hat ein Recht darauf, eine Behandlung abzulehnen. Wird er dennoch – gegen seinen Willen – operiert, wäre das eine Körperverletzung“, erklärt die Münchner Fachanwältin für Medizinrecht, Beate Steldinger.
Der Prozess gegen U. hätte am Dienstag beginnen sollen. 62 Zeugen und zehn Sachverständige waren geladen. Für die Justiz ist die Vorstellung, dass der Prozess nicht nur verschoben ist, sondern endgültig platzt, äußerst unbefriedigend. „Es wäre für die Angehörigen unseres ermordeten Staatsanwalts und für die Justiz nur schwer zu ertragen, wenn dem mutmaßlichen Mörder nicht der Prozess gemacht werden könnte“, sagte Justizministerin Beate Merk.
Der Mord an Tilman Turck löste eine landesweite Diskussion über die Sicherheit in Gerichtsgebäuden aus. Bis 2014 sollen 440 neue Wachleute eingestellt werden, um für mehr Sicherheit in den Gerichtsgebäuden zu sorgen. Anlässlich der Trauerfeier für den im Dienst ermordeten Staatsanwalt ordnete Ministerpräsident Horst Seehofer Trauerbeflaggung an.
Wenigstens ein bisschen Mitgefühl soll Rudolf U. geäußert haben. Laut Anwalt Kaiser sagte er kurz nach der Bluttat, die junge Ehefrau des Staatsanwalts täte ihm leid. – Die beiden hatten erst kurz zuvor geheiratet.