Tochter vor 24 Jahren ermordet: Ein AZ-Besuch
Vor 24 Jahren wurde Inga (18) in Irland ermordet. Die AZ besucht die Mutter. Am Hauptbahnhof gab's die letzte Umarmung. "Ich glaube nicht mehr, dass der Mörder gefunden wird"
München/Belfast - Behutsam wischt Almut H. über den leicht verstaubten Bilderrahmen mit dem Foto ihrer Tochter. „Mein Herzchen. Mein Schmerzchen“, sagt sie zärtlich. Inga Maria, das hübsche, blonde Mädchen auf dem Foto, wurde nur 18 Jahre alt.
Am 20. April 1988 fand ein Schäfer in Nordirland die Leiche der Schülerin. Die Gymnasiastin war vergewaltigt und ermordet worden.
Der Tag, an dem Ingas Leiche gefunden wurde, ist auch der Geburtstag ihrer Mutter.
Am Freitag wurde Almut Hauser 70 Jahre alt. Sie hoffte, dass der Mörder ihrer Tochter gefasst werden würde – bis heute vergeblich. Seit 24 Jahren. Ingas Vater starb vor fünf Jahren an Krebs, ohne erfahren zu haben, wer seiner Tochter das angetan hatte. Der Schmerz und die Erinnerung sind allgegenwärtig in der Drei-Zimmer-Wohnung der Mutter in Haidhausen. Die 70-Jährige lebt in einem Museum aus Erinnerungen.
Anfang April 1988 hatten sie Inga alle gemeinsam zum Hauptbahnhof gebracht: Die Eltern und Ingas leicht geistig behinderte ältere Schwester. Das letzte Mal, dass Almut H. ihre Tochter umarmte.
Eigentlich hatte Inga eine Freundin in Wales besuchen wollen, die dort ein Internat besuchte. Doch die Verabredung platzte. „Die Freundin war noch mit der Schule unterwegs“, erinnert sich Almut H.
Inga wollte sich daraufhin einen Traum erfüllen: Nordirland. In Jeans und Turnschuhen und mit großem Rucksack zog Inga los. „Ich habe es ihr erlaubt“, sagt Almut H. „Das haben mir damals viele vorgeworfen. Aber ich bin auch schon mit 18 nach Schweden durchgebrannt.“
Inga fuhr mit einer Fähre vom schottischen Argyll nach Nordirland. Am 6. April legte ihr Schiff in Ballycastle an der nordwestlichen Spitze der Grafschaft Antrim an. Die Gegend gilt als besonders schöner Landstrich, viele Legenden und Sagen haben hier ihren Ursprung. „Inga hat uns jeden Tag angerufen – aber auf einmal nicht mehr“, berichtet Almut H. Der 6. April 1988, der Tag ihrer Ankunft, ist wahrscheinlich Inga Marias Todestag. Zwei Wochen später wurde ihre Leiche im Unterholz, etwa fünf Meilen von Ballycastle entfernt, gefunden. Der Mörder hatte ihr das Genick gebrochen.
Das furchtbare Verbrechen schockierte in Nordirland die Menschen – und beschäftigt die irische Polizei noch immer. Erst vor einer Woche äußerte sich der Polizist John Dallat in einer Zeitung: „Jedes Jahr reisen tausende junge Leute von Nordirland in die Welt, und ihre Eltern vertrauen auf die Menschen in den anderen Ländern, dass sie nach ihren Kindern schauen und sie schützen, damit sie sicher sicher wieder heim kommen. Nichts anderes haben die Eltern von Inga Maria getan. Wir werden diesen Fall nicht zu den Akten legen.“
Die Polizei betrieb und betreibt großen Aufwand bei der Suche nach dem Mörder: Erst führte der Kriminalfall zu einem der größten DNA-Massenscreenings in der Geschichte der Insel. Mehr als 2000 Männer wurden überprüft. Doch bis heute konnte der Täter nicht gefunden werden. Die Polizei geht von mindestens zwei Tätern aus.
Für Ingas Mutter ist die Hoffnung, dass der Täter doch noch ermittelt wird, winzig klein geworden. Die 70-Jährige lebt in der Erinnerung.
Überall in der Wohnung hängen Bilder, die Inga gemalt hat. Eine große Bleistiftzeichnung erinnert an den Schrei von Edvard Munch, ein anderes fröhliches Bild zeigt eine dicke Frau von hinten, die an einem Feld entlang radelt. Sie hat ein Körbchen auf dem Fahrrad, das Inga aus Pappmaché gebastelt hat. Vor ein paar Tagen hat Almut Hauser einen Tannenzapfen in das ein Vierteljahrhundert alte Körbchen gelegt. „Inga hat die Natur geliebt. Sie war so gern draußen.“ Auf dem Fensterbrett liegen Wurzeln, die Inga gefunden hat, auf einer Anrichte ein Manderl aus Kastanien und Zweigen, das Inga bastelte, als sie fünf, sechs Jahre alt war.
Fast jeden Tag fährt Almut H. zu Ingas Grab am Ostfriedhof. Dort liegen unzählige Steine, die Inga als Schülerin gesammelt hat. Abends, halb sieben, geht Almut H. in die Kirche. „Ich glaube nicht mehr daran, dass der Mörder gefunden wird. Es ist so lange her. Aber interessant wäre es schon zu wissen, wer uns das angetan hat.“
Almut H. trägt Ingas Foto wieder zurück an seinen Platz im Schlafzimmer. Abends, bevor sie einschläft, schaut sie auf das lächelnde Gesicht ihrer Tochter. Und morgens, wenn sie wieder aufwacht.