Synästhesie: Diese Frau kann Farben schmecken

 Juliane May ist Synästhetikerin. Das heißt, mehrere Sinne sind bei ihr verknüpft. Darum sieht das Sendlinger Tor für sie aus wie eine pinke Hüpfburg – und schmeckt nach Sahnebonbon.
Laura Meschede |
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Bilder von Juliane May: So sieht sie ihren Namen.
Juliane May 5 Bilder von Juliane May: So sieht sie ihren Namen.
Stachus und Karlsplatz: gleicher Ort, anderes Bild.
Juliane May 5 Stachus und Karlsplatz: gleicher Ort, anderes Bild.
So nimmt May den Marienplatz wahr.
Juliane May 5 So nimmt May den Marienplatz wahr.
Das Wort „pink“ ist in Mays Wahrnehmung grün.
Juliane May 5 Das Wort „pink“ ist in Mays Wahrnehmung grün.
Juliane May.
Erol Gurian 5 Juliane May.

Juliane May ist Synästhetikerin. Das heißt, mehrere Sinne sind bei ihr verknüpft. Darum sieht das Sendlinger Tor für sie aus wie eine pinke Hüpfburg – und schmeckt nach Sahnebonbon.

Der Stachus ist eine dunkelgrüne Spirale mit blauen Wellenlinien am Ende. Die werden immer heller, dunkelblau, mittelblau, hellblau. „Die Farben lassen sich schwer beschreiben“, sagt Juliane May. „Man kann sie nicht sehen, nur fühlen.“

Juliane May steht mitten auf dem Sendlinger-Tor-Platz. Die 44-Jährige trägt eine türkise Regenjacke, ihr Lächeln ist ein wenig unsicher. „Das Sendlinger Tor ist eine pinke Hüpfburg“, sagt sie.

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Wenn ein normaler Passant auf das Tor blickt, sieht er einen rot-grauen Steinbogen. Juliane May sieht diesen Bogen auch, aber sie sieht eben noch mehr. Denn sie ist Synästhetikerin. Wörter haben für sie Farben und Formen, manche sogar einen Geschmack. So wie das Sendlinger Tor: Es schmeckt nach Sahnebon-bons.

Nicht alle Synästhetiker sehen Farben und Formen – so wie May. Synästhesie, das bedeutet erst einmal nur, dass mehrere Sinne miteinander verknüpft sind. Welche, das ist unterschiedlich. Manche Synästhetiker hören Farben, andere können Gefühle körperlich spüren, wieder andere verbinden mit Tönen einen Geschmack. Die Fähigkeit, Farben in Wörtern zu sehen, kommt dabei am häufigsten vor. Dass Menschen sowohl Farben als auch Formen und Geschmack wahrnehmen wie Juliane May, ist selten.

„Synästhesie ist ein Geschenk Gottes“, sagt May. „Es ist keine Krankheit, es ist eine Gabe.“

Was genau Synästhesie auslöst, ist wissenschaftlich noch nicht endgültig erforscht. Grundsätzlich gibt es im Gehirn drei verschiedene Ebenen, die Sinneseindrücke verarbeiten. Die erste Ebene verarbeitet den ungefilterten Sinneseindruck, die zweite sorgt für den Austausch zwischen den verschiedenen Regionen im Gehirn, und die dritte verknüpft Eindrücke mit Erinnerungen und Erfahrungen.

„Es gibt zwei Theorien, welche Vorgänge im Gehirn Synästhesie auslösen“, sagt Valentin Riedl vom Neuroradiologischen Institut des Klinikums rechts der Isar. „Nach der ersten Theorie sind bei der Geburt die Bereiche des Gehirns auf der ersten Ebene miteinander verknüpft.“ Das hieße, dass alle Sinneseindrücke miteinander verbunden sind und sich erst später voneinander lösen. Riedl: „Bei Synästhetikern bleiben demnach manche Verbindungen bestehen.“ Die zweite Theorie bezieht sich auf die zweite Ebene im Gehirn, die für den Aus-tausch zuständig ist: „Demzufolge werden bei Synästhetikern einfach mehr Informationen über bestimmte Sinneseindrücke ausgetauscht“, sagt Riedl.

Für Juliane May sind die Farben und Formen, die sie wahrnimmt, fest mit Wörtern verknüpft. Wenn sie „Stachus“ hört, sieht sie die blaue Spirale vor ihrem inneren Auge. Jedes Wort hat für sie eine Farbe: Montag ist hellblau, Dienstag zitronengelb und Mittwoch hellgrau. „Manchmal, wenn ich durch die Stadt laufe, muss ich für ein paar Sekunden die Augen schließen“, sagt May, „weil so viele Farben auf mich einprasseln, dass ich überfordert bin."

Lange Zeit wusste May nicht, dass es ungewöhnlich ist, Farben in Wörtern zu sehen. Erst als sie 26 Jahre alt war, fand sie die Bezeichnung für ihre Gabe heraus. „Ich habe mit einer Freundin über meine Eindrücke geredet und sie fragte mich, ob ich eigentlich weiß, dass das einen Namen hat.“

Heute ist May 44 und arbeitet in einer Kinderkrippe. In ihrer Freizeit fotografiert und malt sie, die Kamera trägt sie in einem großen Rucksack stets mit sich herum. „Viele große Künstler waren Synästhetiker", sagt sie. „Rilke zum Beispiel. Seinen Gedichten fühle ich mich so nah, ich würde sie gerne umarmen.“ Wenn May durch München läuft, fallen ihr an jeder Ecke Farben auf. In der Bayerstraße bleibt sie alle paar Meter stehen. „Das Blau in der Aufschrift ,Nordsee’ passt nicht. Das müsste türkis-grün sein." Und ein paar Meter weiter: „Das Rot für Apotheke stimmt, das Wort ist tatsächlich rot."

Und welcher Ort in Mün-chen hat die schönste Farbe? „Am liebsten bin ich an der Isar in St. Emmeram“, sagt May. „Der Platz ist wunderschön weich. Und er sieht aus wie das Innere eines Gänseblümchens.

 

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