Stau-Schau: Der Urlaubs-Verkehr rund um München aus der Luft
München - Wie ein glänzender Wurm schiebt sich der Verkehr über den Asphalt. Vorne streckt er sich, die Mitte ist eng gestaucht, das hintere Stück quetscht sich darauf, da streckt sich vorne das nächste Stück. So geht das die ganze Zeit. Der Wurm kommt nicht von der Stelle, er ist immer hier. Nur seine Glieder sind immer andere: Autos, Lkw und andere Kraftfahrzeuge, die die A 8 von Salzburg nach München fahren. Gerade jetzt, gegen Ende der Ferien, wenn der Verkehr dichter wird, ist sicher: Da, wo der Chiemsee rechts ganz nah an die Straße heranschwappt, da fahren sie alle in den Wurm.
„Das ist ein Staun-Stau“, sagt Robert Schwind in sein Mikrofon und lacht. „Alle bremsen sie, weil sie sich den Chiemsee anschauen müssen.“ Neben ihm dreht Thomas Engel am Lenkrad der kleinen Cessna, damit das Flugzeug sich schräg legt und sein Kollege einen besseren Blick auf die Autobahn hat. „Ja“, tönt es über die Kopfhörer, „auf diesen Stau kannst du dich verlassen.“
Ein Sonntag gegen Ende der Ferienzeit, es ist mäßig warm, aber recht heiter, und Robert Schwind ist mit Thomas Engel immer genau da unterwegs, wo es sich gerade staut. Oder genauer: Gut einen Kilometer drüber.
Die beiden fliegen als Flugbeobachter des ADAC über die kritischen Stellen der Autobahnen um München. Sie sehen oft als Erste, wenn ein Stau entsteht, und können die Lage aus der Luft einschätzen. Dann melden Sie sich bei ihren Kollegen am Boden. Insgesamt arbeiten beim ADAC 17 Stauberater. Die meisten von Ihnen sind mit dem Motorrad unterwegs. Ein Zweier-Team fährt mit dem Auto und dient als mobile Zentrale der Stauberater. Und dann gibt es eben noch den Flieger.
Robert Schwind ist einer von drei Stauberatern, die zusammen mit einem Piloten in der Luft auf Stau-Suche gehen. In der Sommerzeit, wenn die Urlauber sich über die Autobahnen drängen, ist das Team der Stauberater jeden Samstag und Sonntag unterwegs. Und das quasi ehrenamtlich: „Es gibt zwar eine kleine Aufwandsentschädigung“, sagt Robert Schwind. „Aber eigentlich machen wir das, weil es eine sehr schöne Aufgabe ist.“
Robert Schwind ist 46, wohnt in Aying und arbeitet im Büro einer Druckerei. Sein heutiger Pilot, Thomas Engel (43), kommt aus München und ist Brillenhersteller. Um zehn Uhr am Vormittag sind die beiden heute abgehoben, von dem kleinen Flugplatz Ellermühle westlich von Landshut. Mit der viersitzigen Cessna ging es erst über die Hopfenfelder der Hallertau bis zur Nürnberger Autobahn A 9 nördlich von München, wo seit langem eine Baustelle für sehr stockenden Verkehrsfluss sorgt.
Dann sind die beiden Richtung München geflogen, übers Kreuz-Nord und die Fröttmaninger Arena weiter auf die Ostumfahrung A 99, von dort Richtung Süden zur A 8 nach Salzburg. Sie haben einen Stau nach einem Unfall nahe Ismaning bemerkt und gemeldet, ebenso wie einen weiteren kleinen Stau nahe Brunnthal.
Jetzt fliegen sie am Chiemsee über die A 8, und während er sich noch über den Staun-Stau unter ihm amüsiert, erklärt Robert Schwind dem Reporter auf dem Rücksitz, welche Arten von Staus er noch beobachtet: „Staus gibt es oft an Baustellen und nach Unfällen, aber nicht unbedingt, wegen der Behinderung selbst. Sehr oft bremsen die Leute, um zu gaffen.“ Aber soll man an solchen Stellen nicht bremsen, der Sicherheit halber? „Schon, aber Schrittgeschwindigkeit würde es da nicht brauchen. Viele meinen halt, sie müssten sich das ausgiebig anschauen.“ Und wenn ein paar Autofahrer bremsen, folgt im dichten Verkehrsfluss der Ferienzeit eine Kettenreaktion. Auf diese Weise entsteht so ein Wurm aus Autos, der sich hinten zusammen und vorne auseinander zu schieben scheint.
Wenig später entdecken die ADAC-Flieger eine eher seltene Ursache für einen Stau: In Wimpasing bei Siegsdorf brennt ein großes Gehöft. Der Rauch drückt sich in so dichten, dunklen Schwaden in Richtung der gut einen Kilometer entfernten A 8, dass sich dort ein Stau wegen schlechter Sicht bildet.
Der Pilot Thomas Engel fliegt etwas tiefer, damit Robert Schwind telefonieren kann. Er gibt nicht nur seinen Kollegen im Auto Bescheid, sondern auch einer Radiostation. Der Privatsender, der mit „Bayerns schnellstem Verkehrsservice“ wirbt, bezahlt dafür, exklusiv Anrufe direkt aus dem Stauflieger zu erhalten. Robert Schwinds Berichte werden dann aufgezeichnet und gesendet. Gehört hat er sich selbst noch nie im Radio, der öffentliche Auftritt gibt ihm wenig.
Er liebt andere Seiten seiner Freizeit-Aufgabe: Die Aussicht beim Fliegen, klar, aber auch die netten Begegnungen am Boden. Robert Schwind ist nämlich auch als Stauberater mit dem Motorrad und dem Auto unterwegs. „Da bin ich dann das Mädchen für alles: Kleinere Pannen beseitigen, die Leute über Staus und Umleitungen informieren, Unfallstellen absichern, Erste Hilfe leisten und natürlich Staus melden.“ Seit elf Jahren macht er das, seit acht Jahren im Flieger.
Es ist Nachmittag geworden und Thomas Engel steuert die Cessna wieder Richtung Nordwesten. Am Kreuz München-Süd, das viele noch als Brunnthal-Dreieck kennen, sieht Robert Schwind einen kleineren Stau, auch auf der Ostumfahrung fließt der Verkehr zäh. Er greift wieder zum Telefon. Währenddessen funkt der Pilot mit dem Tower des Münchner Flughafens. Die Stauberater haben eine Sondererlaubnis, in der Sicherheitszone des Flughafens unter den startenden und landenden Flugzeugen durchfliegen zu dürfen. Von der südlichen Startbahn im Erdinger Moos steigt gerade eine große Boeing steil in den Himmel über den Staufliegern.
Gegen halb vier tauchen am Boden wieder die Hopfenfelder der Hallertau auf, im Osten verschwimmt der Backsteinturm der Landshuter Martinskirche im diesigen Nachmittagslicht. Wenig später setzt die Cessna am Flugplatz Ellermühle auf. Robert Schwind nimmt sein Handy, um sein Staufazit für den bisherigen Tag durchzugeben: „Eher ruhig – es zeigt sich, dass der Samstag der schlimmere Stau-Tag ist.“
Zumindest bisher.
Denn das große Finale der Heimreisewelle haben die Stauflieger heuer immer noch vor sich.