Standl-Sprecherin Elke Fett: "Der Viktualienmarkt liegt im Sterben"

München - Es gibt einen kleinen Ringbuch-Kalender, der daheim auf ihrem Küchentisch liegt, und wer einen Blick hineinwerfen darf, versteht, warum bei den Standl-Leuten am Viktualienmarkt in diesen Tagen nicht mehr viel gelacht und gescherzt wird.
Kundenzahl, Tagesumsatz, Dauerregen oder Sonnenschein, all das hat Elke Fett (76), die Sprecherin der Standl-Leute, über Jahre hier von Hand notiert. Auch in den letzten Wochen hat sie das getan, obwohl es, außer den Beobachtungen zum Wetter, nicht mehr viel hineinzuschreiben gab. Diesmal empfängt sie die AZ nicht wie sonst an ihrem Duftschmankerl-Standl in der Abteilung II. unten am Markt. Sondern zu Hause, gleich daneben - im fünften Stock eines Altbaus mit weitem Blick über das Herz der Stadt. Sie kocht Kaffee, sie tischt Lebkuchen auf. Die Stimmung ist ernst.
AZ: Frau Fett, wenn man bei Ihnen aus dem Fenster schaut, liegt einem fast der ganze Viktualienmarkt zu Füßen. Viel ist ja gerade nicht los da.
ELKE FETT: Ich sehe genau einen Menschen. Am helllichten Nachmittag. Der Markt, mit dem München in der ganzen Welt geworben hat, liegt im Sterben. Schrecklich.

Wie kommt's? Anders als die Wirtshäuser und Kneipen dürfen die Standl jetzt im "kleinen" Lockdown doch geöffnet bleiben.
Wir dürfen, ja. Aber es kommt trotzdem niemand. Öffentlich mag keiner mehr hierher zu uns fahren, die Leute haben Angst vor Ansteckung. Mit dem Auto bist du nicht mehr erwünscht, man kann ja nirgends mehr parken. Dazu sind jetzt auch noch die Büros im Umkreis alle leer.
"Mit unter zehn Prozent Umsatz fährt jeder an die Wand"
In der ganzen Altstadt?
Ja klar. Die, die früher jeden Tag hier ihre Mittagspause gemacht und am Markt gegessen haben oder die abends noch eine Runde gegangen sind, die fehlen. Die sind nicht mehr in der Altstadt. Die Altstadt bricht gerade richtig zusammen.
Seit wann merken Sie das?
Nach dem ersten Lockdown waren die Leute noch verängstigt, da hatten wir hier zum Teil nur zehn Prozent vom Umsatz. Im Juli war gutes Wetter, das Geschäft zog ein bisschen an, so dass ich wieder 30 Prozent hatte. Das hätte gereicht, um alles bezahlen zu können, Miete, Nebenkosten, die zwei Mitarbeiter. Alles - außer mich selber. Ich habe Gott sei Dank meine kleine Rente.
Dann kam der Samstag im September, an dem die Wirtshaus-Wiesn begann und der Viktualienmarkt mit feiernden Leuten übervoll war.
Das hat uns das Kreuz gebrochen. Die Bilder vom Trubel im Biergarten, bei Fisch Witte und im Café Nymphenburg Sekt, keine Aufsicht vom KVR oder von den Markthallen, die die Leute auf Abstand gebracht hätte. Wir wurden zum Hotspot erklärt, und dann kam die Maskenpflicht am Markt, obwohl wir unter freiem Himmel sind. Das hat uns den Rest gegeben. Mit unter zehn Prozent Umsatz fährt jeder an die Wand.
"An einem Glückstag habe ich noch 180 Euro Umsatz"
Von welchen Summen reden wir da?
Soll ich das jetzt sagen?
Dann versteht man die Lage vielleicht besser.
Gut, dann rede ich jetzt über meinen Stand. Vor Corona hatte ich im Schnitt einen Tagesumsatz von 2.000 bis 3.000 Euro. Im Sommer nach dem Lockdown war ich schon froh, als es wieder auf 500 Euro am Tag rauf ging. Das brauche ich, um alle Betriebsrechnungen zu bezahlen, ohne etwas zu verdienen.
Und seit der Maskenpflicht?
150 Euro. An einem Glückstag 180. Seit dem Frühling stecke ich Geld in den Stand rein, meine Rente und mein Erspartes. Ich hatte so viel gespart, dass ich es mir noch ein paar Jahre hätte gut gehen lassen können. Das meiste ist jetzt weg.
"Wenn's mir schlecht geht, geht es allen schlecht"
Wie lange reicht es noch?
Vielleicht ein paar Monate.
Und dann?
Dann kann ich meine Wohnungsmiete nicht mehr bezahlen. Ich kann in meinem Alter ja keine Schulden mehr machen.
Wissen Sie, wie es bei den anderen Standl-Leuten aussieht?
Ich kann Ihnen eins sagen: Wenn's mir schlecht geht, geht es allen schlecht. Die schlafen ja auch nicht mehr, die wissen auch nicht mehr, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollen. Dabei bin ich der unwichtigste Teil, ich bin ja alt. Die anderen haben noch Familien zu ernähren, geleaste Autos, Kinder im Internat. Und jetzt noch fünfstellige Kredite bei der KfW aufgenommen. Fahr das mal alles runter auf 20, 30 Prozent. Bei uns kommt kein Gehalt am Ersten. Da gibt's auch keine Kurzarbeit.
Sondern?
Wir sollen Hartz IV beantragen. Aber davor muss man Pleite machen und das Standl aufgeben.
Wie viele sind denn so nah an der Insolvenz?
Das kann ich nicht sagen, wir sprechen nicht so laut über Zahlen. Aber man spürt, wie bedrückt und still alle sind. Es hängen auch überall Lieferanten und Hersteller mit dran, die mit pleitegehen. Genaugenommen müsste ich den Vorstand abgeben und zumachen.
"Der Markt ist wohl die coronasicherste Shoppingmeile Bayerns"
Warum stehen Sie dann immer noch dort unten?
Weil ich nicht anders kann. Ich war 25 Jahre am Markt, in meinen Adern fließt Viktualienmarktblut. Ich mache jeden Tag wieder auf, damit ich Vorbild bin, dass wir nicht aufgeben.
Was muss passieren, damit der Viktualienmarkt nicht stirbt?
Ich wünsche mir, dass die Münchner zurückkommen. Der Viktualienmarkt ist mit der frischen Luft ja vermutlich die coronasicherste Shoppingmeile in ganz Bayern. Dass die Münchner weiter unsere Qualitätsprodukte kaufen, dass sie uns die Treue halten. Wir Standl-Leute müssen schauen, dass das Schiff weiterfährt. Im Sturm muss so ein Schiff wie unser Markt Ballast abwerfen, sich ducken und weiterfahren.
Was haben Sie vor?
Etwas Schönes. Wir sind im Dezember der einzige Markt in München, der überhaupt offen haben kann. Christkindlmärkte gibt es ja nicht. Also machen wir Händler den schönsten weihnachtlichen Viktualienmarkt, den es je gegeben hat.
Einen Ersatz-Christkindlmarkt?
So stelle ich mir das vor, jeder von uns schmückt seinen Stand so schön, wie es noch nie war. Damit die Leute Freude daran haben, zu uns zu kommen. Wir putzen unseren Markt heraus. Der Viktualienmarkt hat zwei Weltkriege überlebt, er wird Corona auch überleben.