Wohnungslos - nach fast 70 Jahren

Ingeborg Höllriegl (73) wohnt schon immer  in der Kaulbachstraße. Nach einer Mieterhöhung kann sie sich ihr Zuhause aber nicht mehr leisten. Ab Juli steht die Rentnerin auf der Straße.
von  Julia Lenders
Ingeborg Höllriegl muss ihre Wohnung nach 70 Jahren verlassen, weil sie nach einer Mieterhöhung zu teuer für sie ist.
Ingeborg Höllriegl muss ihre Wohnung nach 70 Jahren verlassen, weil sie nach einer Mieterhöhung zu teuer für sie ist. © Loeper

München -  Nächsten Monat ist es vorbei, dann muss Ingeborg Höllriegl ihr Zuhause verlassen. Für immer. Die 73-Jährige hat nahezu ihr ganzes Leben in dieser Wohnung in der Schwabinger Kaulbachstraße zugebracht. Als ihre Familie nach dem Krieg einzog, war sie fünf Jahre alt. Davor hatten die Höllriegls gleich im Nachbarhaus gelebt. Der Vater betrieb seine Zahnarztpraxis in den neuen Räumen.

„Das Haus wird von den alteingesessenen Schwabingern immer noch Höllrieglhaus genannt“, sagt die Rentnerin. Mit ihrem Bärchen-Pullover sieht sie ein wenig verloren aus, wie sie da in ihrem Sessel sitzt.

Der Anfang vom Ende kam im vergangenen März in Form einer Mieterhöhung. Die Eigentümergemeinschaft will ab Juli 20 Prozent mehr bezahlt bekommen. Inzwischen ist so eine Steigerung gesetzlich nicht mehr erlaubt, die Grenze liegt jetzt bei 15 Prozent. Für Ingeborg Höllriegl war die Wohnung auch bisher nur finanzierbar, weil sie dort mit ihrer Tochter Gabi und einem Untermieter lebte, der nur zeitweise dort übernachtete. Zu dritt war die Miete inklusive Betriebskosten von 1375 Euro zu stemmen. Und Platz gab es wirklich mehr als genug: 175 Quadratmeter, aufgeteilt auf sechs Zimmer.

In eine kleinere Wohnung zu wechseln, machte lange keinen Sinn. Weil es mehr gekostet hätte, auch nur die Hälfte an Quadratmetern neu anzumieten, als die alte Wohnung einfach zu behalten. Ein Problem, das auch der Münchner Mieterverein kennt. Sprecherin Anja Franz: „Viele ältere Menschen sagen, sie würden sich gerne verkleinern, können sich das aber nicht leisten.“ Deshalb lebten sie weiter alleine in großen Altbauwohnungen.

Das finanzielle Argument ist freilich nicht das einzige: „Das hier ist mein Zuhause“, sagt Ingeborg Höllriegl. Vier Generationen ihrer Familie waren in diesen Räumen zuhause: Anfangs lebte sie mit ihrer Oma und ihren Eltern zusammen, hier zog sie ihre eigene Tochter groß und pflegte ihre Mutter, bis diese starb – vor 20 Jahren war das.

Damals zog Tochter Gabi wieder bei ihr ein, damit die Wohnung, die seinerzeit noch deutlich günstiger war, in Familienhand bleibt. „Rückblickend betrachtet wäre das der richtige Zeitpunkt gewesen, nach etwas anderem zu schauen“, räumt Gabi Höllriegl (52) ein. „Es war ein großer Fehler, dass wir das nicht früher getan haben.“

Die neue Miete plus Betriebskosten von insgesamt 1650 Euro können sie sich nicht mehr leisten. Die Rente der Mutter und das Gehalt der Tochter, die im Getränkehandel arbeitet, machen zusammen etwa 2300 Euro netto aus. Nachdem sie von der Mieterhöhung erfuhren, kündigten die Höllriegl-Frauen die Wohnung und machten sich intensiv auf die Suche nach einer neuen Bleibe.

Wobei beide künftig getrennt leben wollen, weil die Rentnerin in der Stadt und in der Nähe ihrer Ärzte bleiben möchte, ihre Tochter nach einem Standortwechsel ihres Arbeitgebers aber berufsbedingt ins Umland ziehen muss. Sie hat bereits eine Wohnung in Aussicht.

Doch die Suche für Mutter Höllriegl gestaltet sich schwierig bis aussichtslos. Bei 50 Objekten probierte die Tochter, die die Suche übernahm, ihr Glück. Sie schaltete selbst Anzeigen. Vergeblich. „Wenn zur Sprache kommt, dass ich die Wohnung für meine Mutter suche, rudern die Vermieter zurück“, berichtet Gabi Höllriegl. „Ein Vermieter sagte klipp und klar: Er möchte keine Rentnerin, sondern einen langfristigen Mieter – es könne schließlich sein, dass sie bald ins Pflegeheim muss.“

Anja Franz vom Mieterverein bestätigt: „Es fällt auf, dass alte Menschen größere Probleme auf dem Wohnungsmarkt haben als junge.“ Die Vermieter würden die Unwägbarkeiten fürchten, „etwa dass der alte Mensch stirbt und sie sich mit den Erben auseinandersetzen müssen“.

Bei Ingeborg Höllriegl kommt noch hinzu, dass sie keine große Rente hat. Nach 44 Jahren als Friseurin und Kassiererin bekommt sie jetzt monatlich weniger als 930 Euro. Davon in München eine neue Zwei-Zimmer-Wohnung zu finanzieren, ist schwierig. Auch wenn diese gar nicht besonders groß sein müsste.

Die Zeit drängt. Im Juli muss Ingeborg Höllriegl die vertrauten Räume nach fast 70 Jahren verlassen. „Dann stehe ich blank auf der Straße, nur mit meinen Vogel-Käfigen in der Hand.“ Denn ihre beiden Wellensittiche Bubi und Bazi will sie keinesfalls weggeben. Verwandte, bei denen sie unterkommen könnte, hat die 73-Jährige nicht. Ihre Brüder hätten nicht genug Platz sie aufzunehmen, erzählt sie. Es gibt keinen Notfallplan.

Gabi Höllriegl hat sich für ihre Mutter auch um eine Sozialwohnung bemüht. Aber die Wartelisten sind lang. Voriges Jahr waren etwa 11 000 Haushalte in München registriert, die Anspruch auf eine Sozialwohnung hätten – mehr als die Hälfte davon, nämlich 5500, in der höchsten Dringlichkeitsstufe. „Für eine Vergabe standen aufgrund des stark angespannten Münchner Mietwohnungsmarktes jedoch nur 2300 Wohnungen zur Verfügung“, heißt es im Sozialreferat.

Wenn Ingeborg Höllriegl nicht bald eine Lösung findet, bleibt ihr nur eins: Sie muss sich in einem städtischen Notquartier unterbringen lassen. Bubi und Bazi dürfte sie dann nicht mitnehmen.

Die Geschichte der Rentnerin ist gewiss eine besondere, weil ihre Wohnung so groß war. Und trotzdem ist sie typisch für das immer teurer werdende München. Auch beim Sozialreferat weiß man, dass Mietsteigerungen ein Grund dafür sein können, dass die Rente „für die Bestreitung des Lebensunterhaltes inklusive Miete nicht mehr ausreicht“.

Was es für die Höllriegl-Frauen noch bitterer macht: Hätten sie die Wohnung angesichts der anstehenden Mieterhöhung nicht gleich gekündigt, sondern bei der Stadt erst mal um finanzielle Unterstützung für die Mutter gebeten, hätten die Behörden wohl helfen können. Wenn die eigene Bleibe nicht mehr bezahlt werden könne, würden „auch sehr hohe, völlig unangemessene Mieten für sechs Monate (im Einzelfall auch länger) übernommen, um Wohnungslosigkeit zu vermeiden“, steht in einer schriftlichen Stellungnahme des Sozialreferats. Mutter und Tochter hätten mehr Zeit gehabt für die Suche. Zu spät.

Die Wohnung in der Kaulbachstraße wird ab Juli saniert und herausgeputzt – und ihren Eigentümern danach gewiss deutlich mehr einbringen. Und im Höllrieglhaus wird dann niemand mehr leben, der Höllriegl heißt.

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