Wie eine Anwohnerin lernte, das "Sendlinger Loch" zu lieben

Seit mehreren Jahren klafft mitten in Sendling ein riesiges Loch. Nach Jahren der Ablehnung hat unsere Autorin inzwischen Gefallen daran gefunden. Eine Liebeserklärung.
von  Laura Meschede
Auf den ersten Blick ein Schandfleck, auf den zweiten ein detailreiches Panorama mit natürlicher Funktion: das Sendlinger Loch.
Auf den ersten Blick ein Schandfleck, auf den zweiten ein detailreiches Panorama mit natürlicher Funktion: das Sendlinger Loch. © Nina Job

Sendling - Vor einigen Wochen ist in einer großen deutschen Zeitung ein Interview mit einer Paartherapeutin erschienen, es ging um die verschiedenen Phasen einer Trennung: erst Schock und Trauer, dann Wut und radikale Ablehnung. Und schließlich: Akzeptanz. In dieser Phase, so die Expertin, könne man endlich auch Dankbarkeit für das Schöne empfinden.

Als ich das gelesen habe, musste ich sofort an das Loch denken. Das Sendlinger Loch ist eine große Baugrube in der Alramstraße in Sendling, gebuddelt im Auftrag der Immobilienfirma M-Concept. Es ist ein sehr großes Loch und ich bin dankbar dafür. Das war nicht immer so. Das Loch und ich sind durch verschiedene Phasen gegangen. Von Hilflosigkeit über Wut bis zur Akzeptanz.

Eigentumswohnungen statt Supermarkt: Das Drama ums "Sendlinger Loch" beginnt

Ich habe viele Jahre in der Alramstraße gewohnt; nur wenige Meter entfernt von der Stelle, an der heute das Loch klafft. Inzwischen bin ich umgezogen, aber ich komme noch regelmäßig in die Gegend, um meine Mutter zu besuchen oder Freunde zu treffen.

Die Geschichte des Lochs beginnt 2019 mit der Phase der Trauer. Plötzlich ist der Rewe-Supermarkt in der Alramstraße geschlossen. Nachbarn stellen Grabkerzen an seinem Eingang ab und heften Abschiedsbriefe an seine Tür. Statt dem Supermarkt, schreibt die Zeitung, sollen hier nun "herrliche Eigentumswohnungen" hinkommen. Die Trennungsschmerzen im Viertel werden durch diese Ankündigung noch gesteigert. Neben der verflossenen Einkaufsmöglichkeit betrauert man vorsorglich schon mal die verbliebenen bezahlbaren Mieten im Viertel.

2021 ist das "Sendlinger Loch" fertig – danach passiert nichts

2020 fängt M-Concept an, das Loch auszuheben, genau da, wo früher der Rewe stand. Und der Platz vor dem Rewe. Und der Supermarkt hinter dem Rewe. (Es ist wirklich ein großes Loch.) Die herrlichen Eigentumswohnungen sollen eine große Menge Tiefgaragenstellplätze bekommen, und noch Hunderte Meter weiter werden die Nachbarn nun von den Vibrationen der Bauarbeiten aus dem Schlaf geschaukelt. Gelungene Sprengungen der Bodenplatten werden in den Häusern gegenüber zuverlässig durch von der Wand fallende Bilder angezeigt.

2021 ist das Loch fertig und es beginnt die Phase der Wut. Denn, so scheint es: Die Baugrube ist gekommen, um zu bleiben. Die Bauarbeiter sind verschwunden, die Geräte auch. Informationen gibt es nicht. Es gibt nur noch: eine gluckernde Grundwasserpumpe. Und: ein riesiges Loch.

Warum die Bauarbeiten stillstehen, bleibt unklar

Inzwischen hat sich in der Nachbarschaft herumgesprochen, dass der Neubau einen "Concierge-Service" bekommen soll. Er soll die Bewohner der "attraktiven Eigentumswohnungen" begrüßen und verabschieden und den Eingangsbereich auf "verdächtige Personen" überwachen. Auf seiner Homepage wirbt M-Concept damit, die Umgebung "für die künftigen Bewohner" so zu gestalten, dass sie zu "ihrer Persönlichkeit" passt. Ohje.

Warum die Bauarbeiten stillstehen, bleibt derweil unklar. Offenbar ist die Grundwasserpumpe nicht ganz dicht, denn am Boden des Lochs bildet sich langsam eine dreckige Pfütze. Regelmäßig sieht man Nachbarn vom Rand des Lochs in die Tiefe starren, einen Seufzer im Gesicht. Die Nachricht von dem Volksentscheid in Berlin, bei dem fast 60 Prozent für die Enteignung großer Immobilienkonzerne gestimmt haben, wird in Sendling in regen Debatten um die Enteignungsfähigkeit gigantischer Löcher rezipiert.

Aus der Pfütze im "Sendlinger Loch" wird ein kleiner See

Aus der Pfütze im Loch ist inzwischen ein kleiner See geworden. "Hörst du mich, Loch?", murmele ich beim Vorbeigehen, "Wir werden dich enteignen!". "Gluck", antwortet das Loch. "Gluckgluck."

Warum geht hier nichts voran? Beim Abendessen im Italiener neben dem Loch diskutiere ich mit meiner Mutter, ob es lohnenswert wäre, sich als neureicher Interessent auszugeben, um telefonisch Informationen von der Immobilienfirma zu erhalten. Wir verwerfen die Idee, aber nur wenig später verkündet M-Concept triumphierend der Presse, es hätten sich "viele Nachbarn und Bewohner aus einem Radius von weniger als fünf Kilometern" bei ihnen gemeldet und "großes Interesse an den attraktiven Wohnungen" gezeigt.

Das "Sendlinger Loch" wird zur Sehenswürdigkeit bei Google Maps

Im Loch ist derweil ein kleines Biotop entstanden: Neben dem Lochsee wuchert eine grüne Wiese empor, in ihm schwimmen ein paar rostige Rohre, es sieht friedlich aus.

Es ist jetzt 2023 und langsam beginne ich, das Loch mit anderen Augen zu sehen. Ich frage mich nicht mehr, wann hier weitergebaut wird. Ich frage mich nur noch: Ist das Schilf dahinten im Lochsee?

Bei Google Maps, wo das Loch neuerdings als Sehenswürdigkeit gelistet ist, berichten euphorische Besucher in den Rezensionen, Enten im Loch gesichtet zu haben und bedanken sich für den kostenfreien Wertstoffhof.

Schnell steigt das Loch zum bestbewerteten Loch der Stadt auf. 4,5 Sterne, "10/10, would visit again". Negativ vermerkt wird nur, dass versäumt wurde, Frösche anzusiedeln.

Rettet das Loch Sendling vor dem Concierge-Service?

Immer klarer wird: Solange das Loch unverändert vor sich hin gluckert, so lange kann hier niemand 18.000 Euro pro Quadratmeter verlangen. Unser Loch, der unüberwindbare Burggraben zwischen Sendling und dem Concierge-Service.

Die Nachbarin aus dem Haus gegenüber erzählt, sie könne dank des Lochs jetzt von ihrem Fenster aus die Frauenkirche sehen. Abends stehe ich am Bauzaun und betrachte zärtlich die Spiegelung des Mondes im Lochsee. "Nicht wahr, Loch", flüstere ich, "du wirst Sendling vor dem Concierge-Service retten?" "Gluck", sagt das Loch. "Gluck, gluck".

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