Spezialführung: Blinde dürfen Leichen in "Körperwelten" anfassen
Auf Tuchfühlung mit einer Leiche. Blinde und Sehbehinderte besuchen die „Körperwelten“-Ausstellung in München und ertasten Organe und vollständige Leichen. Die entscheidenden Fragen dabei: Knochen oder Glibbriges? Und: Kann ich mal das Gehirn haben?
Milbertshofen – „Wollen Sie mit Knochen anfangen? Oder mit was Glibbrigem?“, fragt Medizinstudentin Carolin Kelso (8. Semester) und zeigt auf den langen Tisch vor ihr. Auf schwarzem Tuch liegen dort ein menschliches Hirn, ein Herz, ein zweigeteilter Schädel, ein Fuß, eine ganze Niere, eine halbe Niere und „eine kleine, geschundene Niere“. Knochen! ist die einhellige Antwort. Man will sich langsam rantasten an das Ungewohnte, das „Glibbrige“.
Eine Gruppe blinder und sehbehinderter Menschen hat am Dienstagabend in München Gunther von Hagens' „Körperwelten“ besucht und dabei im wahrsten Sinne des Wortes versucht, die Ausstellung zu begreifen. Was normalerweise streng verboten ist, wird für die Besucher möglich: Sie dürfen und sollen die präparierten Leichen und Leichenteile nach Herzenslust anfassen. Die Führung findet in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenverbund statt.
Quasi zur Eingewöhnung geht es mit einzelnen plastinierten Organen los – und Berührungsängste sind von Anfang an Fehlanzeige. „Kann ich mal das Gehirn haben?“ ruft einer und erntet Gelächter. Die Stimmung ist gelöst. Die 33-jährige Münchnerin Melanie Egerer ist von Geburt an blind und tastet interessiert eine Schädelhälfte ab. „Zähne hat er auch noch“, sagte sie und lacht. Dass ein Gehirn so schwer sein kann, wundert sie und sie fasst sich prüfend an den Kopf, „ob das auch in Relation steht“. Die einhellige Meinung über die Organe: „Fühlt sich an wie Plastik“.
Diese Einschätzung ändert sich auch nicht, als die Leichenteile größer werden. Ein als Ringturner inszenierter toter Mann wird von allen Seiten angefasst – ebenso seine Organe, die in einem Netz neben ihm hängen. Dass es sich um einen toten Menschen handelt, scheint niemandem so richtig bewusst zu sein. Wie gesagt: „Fühlt sich an wie Plastik“. Die Münchnerin Stefanie Freitag streicht mit ihren Händen und rot lackierten Fingernägeln über die Bauchmuskeln des Mannes und ist begeistert von seinem „Sixpack“. Einen „Torwart“ dürfen die Teilnehmer der Führung noch anfassen – und einen großen Braunbären.
Von Hagens hat das sogenannte Plastinationsverfahren für Leichen entwickelt: Flüssigkeit und Fett werden entfernt und gegen Kunststoffe ausgetauscht. Bei ihrem Start vor mehr als zehn Jahren galt die „Körperwelten“-Ausstellung als Sensation und Skandal gleichermaßen. Die Präsentation toter menschlicher Körper wühlte auf und spaltete die öffentliche Meinung. Als von Hagens 2003 erstmals mit seinen Exponaten nach München kam, versuchte das mächtige Kreisverwaltungsreferat, die Ausstellung zu verbieten, scheiterte aber vor Gericht.
Inzwischen hat man sich gewöhnt an die ausgestellten Leichen. An zahlreichen Orten ist die Ausstellung zu sehen gewesen, nach eigenen Angaben hatte von Hagens weltweit bereits 37 Millionen Besucher. Auch Blindenführungen gab es schon an mehreren Orten in Deutschland. Noch bis zum 7. Oktober werden im Münchner Olympiapark rund 200 speziell präparierte Leichen und Leichenteile gezeigt – die sich, das nehmen die Teilnehmer der Blindenführung mit, nicht wie solche anfühlen.
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