Neuer Gasteig in Sendling: Bereicherung oder Fremdkörper fürs Viertel?
Sendling - Sendling ist groß und als gesamtes Viertel schwer zu greifen. Bewohner sagen entweder, es sei "das letzte richtige Arbeiterviertel" oder "schon lange kein richtiges Arbeiterviertel mehr". Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen. In jedem Fall tragen die Menschen, die am späten Nachmittag aus der U-Bahn kommen, mehr rote, weiße oder dunkelgraue Arbeitshosen, als man es etwa am Glockenbach sieht. Und es ist noch nicht alles so glattsaniert und aufpoliert wie in Haidhausen.
In diese Melange aus rauem Wohnviertel, Gewerbegebiet, größeren Straßen und Schaufenstern von Schlüsseldienst, Gemüseläden und günstigen Friseuren wurde eine Insel bildungsbürgerlicher Kultur geworfen. Die Isarphilharmonie - und der ganze Interims-Gasteig HP8 - haben vor drei Wochen eröffnet. Hier ist das Ausweichquartier der Münchner Philharmoniker, während der Gasteig in Haidhausen fünf Jahre umgebaut wird.
Gasteig HP8: Raumschiff mit fremdartigem Innenleben
Die Konzerthalle, ein anthrazitfarbener Stahlträgerbau, wurde direkt an die alte Trafohalle mit ihren 100 Jahre alten Backsteinen angedockt. Der Komplex gleich gegenüber des markanten Heizkraftwerks fügt sich dezent in die Umgebung ein. Und doch ist es eine Art Raumschiff, mit fremdartigem Innenleben und Publikum in Abendgarderobe.

Was die Sendlinger zu Konzertsaal und Zentralbibliothek sagen? Schließlich wirkt so ein bedeutendes Haus auch immer auf den Charakter eines Viertels, auf die Parksituation, auf den Freizeitwert - und letztlich wohl auch auf den Wohnungsmarkt.
Am oberen Ende der Euphorieskala: Angelika Siefken und Edelgard Hertel. Sie sitzen im neuen Konzerthauscafé Gaia, das sich mit ein paar Treppenstufen aus dem Foyer erhebt. "Dieses schicke Industrie-Design, das ist echt toll", sagt Siefken. Sie staunen über die hohe entkernte Halle mit dem Glasdach und den sichtbar verlegten Rohrleitungen.
Die 69-Jährige wohnt seit 35 Jahren in Sendling, keine 500 Meter entfernt: "Das ist eine richtige Bereicherung für uns hier." Die beiden Frauen haben sich ein Stück Kürbiskuchen gegönnt und genießen die wuselige Atmosphäre. Sie könnten längst in Rente sein. Aber die eine arbeitet als OP-Schwester weiter, die andere bei einem ambulanten Pflegedienst.
Eine offene Bibliothek
Siefken hat drei erwachsene Kinder. Sendling mochte sie schon immer. Weil alles vor Ort war, Schulen, Einkaufsmöglichkeiten. Mit den beiden U-Bahnen ist man "im Nullkommanix überall in der Stadt", sagt sie. "Wer will da schon in Schwabing wohnen?"
Ein Stockwerk weiter oben gelangt man über die Galerie mit der blau lackierten Stahlbalustrade zu den Büchern. Die Zentralbibliothek am Gasteig ist auch mit flussaufwärts gezogen - zumindest ein Teil des Bestands. Aber der Unterschied ist gewaltig. Offene, helle Flächen mit Regalen aus wabenförmigen Kartons, die durch orangene Schnellspanngurte zusammengehalten werden.
Es gibt keine Einlasskontrollen - außer der am Haupteingang, um die 3G-Regel zu prüfen. "Das ist ein echtes Novum für München", sagt die Bibliothekarin Birgit Wimmer. Von mehreren Stockwerken und Seiten können Besucher in die Lesesäle schlendern. Ohne Ausweis, ohne sich anzumelden. "Das nennt sich Open Library", sagt die 40-Jährige stolz.
Und wenn man Bücher mit nach Hause nehmen will? Über die Terminals mit den Scannern kann jeder, der eine Bibliothekskarte hat, seine Bücher selbst entleihen. Das Konzept basiere auf Vertrauen und stammt ursprünglich aus Dänemark. "Bisher wird es super angenommen", sagt Wimmer.

Gerade am Sonntag, sei richtig viel los gewesen, "da waren die Leute auch zwischen den Regalreihen auf dem Boden gesessen". Birgit Wimmer mag es zu sehen, wie sich die Leute die Räume zu Eigen machen. Ihre Besucher sind altbekannte Gesichter vom Gasteig, Neugierige, die das Gebäude anschauen wollen, aber es kommen auch schon die ersten Sendlinger.
Es soll ein Haus für alle sein. Mit dem offenen Konzept hofft Birgit Wimmer, das noch unterstreichen zu können. An diesem Montagnachmittag sind die meisten der 50 Arbeitsplätze schon belegt. Zwischen jungen Studentinnen mit Glasflaschen und Gesetzbüchern sitzen weißhaarige Männer. Der eine, abgewetztes Hemd und Edeka-Plastiktüte, liest Wikipedia-Einträge, andere googeln Routen.
Bilal und Saad sitzen zu zweit an einer Tischgruppe. Sie sind Zwölftklässler und lernen für ihre Geschichtsklausur. "Hier haben wir unsere Ruhe", sagt Bilal.
Konzerthaus? "Mich interessiert mehr, wie Schalke hier spielt"
Raus aus der Philharmonie, 300 Meter weiter, führt eine Türe in die Machete II, eine kleine rustikal gehaltene Boazn. Innen ist es so schummrig dunkel, dass man nicht unterscheiden kann, ob es draußen Nacht oder Tag ist. Ansonsten Standardinventar; langer Tresen, Flachbildschirm und Spielautomaten. Es ist halb vier, zwei Männer trinken auf den Barhockern ihr Feierabend-Helles. Das neue Konzerthaus? Da waren sie noch nicht. "Mich interessiert mehr, wie Schalke morgen hier spielt", sagt der eine. Es ist der Abend, bevor die Münchner Löwen Schalke im Grünwalder Stadion mit 1:0 aus dem DFB-Pokal schießen.

Wenige Hauseingänge weiter steht man auf der Fahrradschlauchfußmatte des Fahrradgeschäfts Ritzel Kitzel. Von der Decke hängen bunt lackierte Felgen und Mountainbikerahmen aus Bambus, viele Einzelteile - ein richtiger Schrauberladen. Der Besitzer Mario Kaaf mit hochgestellter Schildmütze schaut spitzbübisch Richtung Eingang. Die neuen Gäste? "Wenn ich abends heimfahren will, muss ich mich da erstmal durchgraben", sagt Kaaf über die Konzertbesucher, die Richtung Isar strömen. "Das sind so Leute, die nur auf sich und ihre Lackschuhe achten", sagt Kaaf. Das sei vielleicht befremdlich, aber tiefgreifende Veränderungen im Viertel erwartet er nicht.

Sein Mitarbeiter, der gerade ein Mountainbike vor sich im Schraubstock hat, protestiert sofort. Das Konzerthaus und das neue Volkstheater am Schlachthof machten das Viertel attraktiver. "Aber in die falsche Richtung", sagt Sebastian Rausch, "eben für ein bestimmtes Klientel." Er wohnt direkt an der Schäftlarnstraße gegenüber vom Konzerthaus. In den vergangenen 15 Jahren sei im Viertel viel renoviert worden. Auch hier haben die Preise angezogen. "Ich gebe die Hälfte meines Gehalts für die Miete aus, das ist doch Wahnsinn", Rausch schaut düster.
Zurück im Gaia Café macht die Frage nach den Mieten auch die beiden Krankenpflegerinnen betroffen. Sie selbst haben Glück, die eine wohnt in einer Genossenschaftswohnung, die andere schon 30 Jahre bei einem privaten Vermieter. So bedeutet das neue Kulturzentrum für die einen mehr Lebensqualität. Anderen kann es egal sein - noch. So lange, bis es mehr junge Akademiker und Investoren in das Viertel am Flaucher zieht.
An der Ampel vorne am U-Bahnhof kommt ein älterer Herr aus dem Edeka, ein Kfz-Mechaniker. Vor ein paar Tagen hat er sich das neue Gebäude angesehen. Aber die Musik? "Nee, das ist nichts für mich, ich höre lieber Volksmusik, also Blasmusik und so", sagt er.