München: 96-Jährige soll nach 60 Jahren aus Wohnung in Schwabing raus
Es ist ein typischer Bau aus der Nachkriegszeit. Keine schmucken Verzierungen an den Wänden, kein holzvertäfeltes Treppenhaus. Ein solider 50er-Jahre-Bau. Im Erdgeschoss des Hauses am Hohenzollernplatz befinden sich ein orthopädisches Schuhgeschäft, ebenso ein Bäcker und ein Kosmetikstudio. Das Haus mit der gelben Fassade ist sehr gepflegt. Der Rasen im Hinterhof akkurat getrimmt, das Treppenhaus sauber – es ist nicht die schlechteste Adresse Schwabing.
Anna U. wohnt dort seit den 60ern
Seit mehr als 60 Jahren wohnt Anna U. in einer Dreizimmerwohnung in dem Mehrfamilienhaus. Die 96-Jährige ist krank. Sie leidet an Demenz, ist seit einigen Jahren sogar bettlägerig. Jetzt soll sie ihre vier Wände verlassen, weil ein Streit zwischen ihrem Pfleger und der Vermieterin eskaliert ist.
Hani F. betreut die alte Dame seit 16 Jahren, bezeichnet sein Verhältnis zu ihr wie zu einer „echten Großmutter“, um die er sich „sehr gerne“ kümmere. Seit einigen Jahren ist er ihre einzige Bezugsperson und immer in ihrer Nähe. Deshalb wohnt er in einer Einzimmerwohnung auf demselben Stockwerk. Anna U. und ihr inzwischen verstorbener Ehemann haben das Appartement in den 60er Jahren angemietet. Hani F. wohnt dort zur Untermiete.
Vor fast zehn Jahren begann das Verhältnis zwischen der Hausverwaltung und den Mietern zu kriseln. Zunächst ging es um Ruhestörung und später auch um Banalitäten wie ein abgestelltes Fahrrad oder eine Blumenvase im Hausflur. Die erste Kündigung des Mietverhältnisses flatterte ins Haus.
Beleidigungen gezielt provoziert?
Ein Schock, wie sich ihr Betreuer erinnert. Er wehrt sich, schreibt immer wieder Briefe an die Hausverwaltung und die Vermieter, fühlt sich ungerecht behandelt. Später, nach erneuten Kündigungsschreiben, verfasst er auch E-Mails, nicht immer ist der Ton darin freundlich. Er begründet das mit seiner Verzweiflung, schließlich stehe der Verlust seiner Existenz, seines Arbeitsplatzes und die Gesundheit seiner Schutzperson auf dem Spiel. „Wir sind die einzigen im Haus, die von Vermieterseite immer wieder diffamiert und verunglimpft werden,“ sagt er. Dass man eine alte, kranke Frau, „eine echte Münchnerin“, aus ihrer gewohnten Umgebung reißen wolle, sei ein Skandal.
Das Amtsgericht hatte zunächst eine Räumungsklage gegen Anna U. und ihren Betreuer abgewiesen. Einen Umzug könne man der alten Frau nicht zumuten. Das Landgericht München I hat dieses Urteil Anfang des Jahres aufgehoben. Aufgrund der schweren Beleidigungen – F. hatte die Vermieterin unter anderem als Terroristin bezeichnet – sei eine Aufrechterhaltung des Mietvertrags nicht möglich. Ein Räumungstermin wurde angesetzt. Die Kosten für den jahrelangen Rechtsstreit soll Anna U. tragen – immerhin mehrere Tausend Euro.
Mietrecht-Fall vor Gericht: Verwandte dürfen wohnen bleiben
Betreuer Hani F. sieht in dem Ganzen ein Justizversagen. Die Anschuldigungen kann er nicht nachvollziehen, Mietrückstände habe es nicht gegeben, die Beleidigungen seien gezielt provoziert worden. Bei der Verhandlung sei die Vermieterseite nicht mal anwesend gewesen. „Die bayerische Justiz ist parteisch vorgegangen und hilft dem, der das meiste Geld hat“, sagt er. Er vermutet, dass es den Klägern vor allem um eines geht: die Wohnungen neu und damit teurer zu vermieten.
Für die drei Zimmer mit Balkon bezahlt U. rund 900 Euro warm. Die Einzimmerwohnung kostet 450 Euro. Hani F. bezahlt diese selbst, sagt er, um Gerüchten, er mache das alles zu seinem eigenen Vorteil, vorzugreifen. Klar ist sicherlich: Bei der zentralen Lage in Schwabing könnte der Vermieter inzwischen eine sehr viel höhere Miete verlangen.
Deshalb beschäftigt der Fall jetzt den Bundesgerichtshof. Am Mittwoch müssen die Richter in Karlsruhe über das Schicksal der 96-Jährigen entscheiden. Sie müssen klären, ob die sogenannte „Zumutbarkeitsgrenze“ in der Sache verschoben werden muss. Will heißen: Muss Anna U. für die Auseinandersetzung zwischen ihrem Betreuer und den Wohungseigentürmern die Konsequenzen tragen – trotz Krankheit und hohem Alter?