Haidhausen in den Siebzigern: Als das Alltagsleben noch normal war

Haidhausen - Nein, eine Archäologin ist Sabine Jörg nicht. Aber eine untergegangene Welt hat sie eindrucksvoll für die Nachwelt dokumentiert: das Haidhauser Alltagsleben der 70er Jahre. Kaum vorstellbar für uns, die wir heute durch die edel-sanierten Straßen des super-teuren Viertels laufen.
Wie anders doch das Haidhausen war, das Sabine Jörg in den 70ern vorfand. Sie kann erzählen von verrußten Fassaden, Einschusslöchern aus dem Krieg, von ganz einfach-bodenständigem Leben und wilden Typen. Und zu alldem hat sie Fotos parat, die sie in jenen Jahren gemacht hat.
Besondere Erinnerung an Haidhausen der siebziger Jahre
"Ich kam aus Bochum von der Uni", erzählt sie, "aus dem Ruhrgebiet, einem harten Pflaster. In Haidhausen habe ich mich da gleich wohlgefühlt." Klar, es kommt vor, dass ihre neuen Münchner Freunde sie nicht besuchen wollen, weil Haidhausen, da mag man ja nicht hinfahren.
Aber Sabine Jörg gefällt es. "Die Leute waren so direkt, wie ich es sonst aus Süddeutschland nicht kannte", sagt sie. "Und man gehörte schnell dazu – auch wenn man Brötchen statt Semmel gesagt hat."

Besonders gern erinnert sie sich an den Kronawitter, nicht den damaligen OB, sondern das Geschäft am Weißenburger Platz. "Die hatten Tausende verschiedene Bürsten!" In ihrem Haus in der Metzstraße knarzte die Treppe – und wenn sie im ersten Stock vorbeikam, sei regelmäßig "zufällig" die Tür aufgegangen – weil die Nachbarin überprüfen wollte, ob denn endlich ein Ehering am Finger sei, wie Jörg immer noch überzeugt ist.
Feuchte und dunkle Häuser in Haidhausen: "Ich war ständig krank"
Verheiratet waren sie und ihr späterer Mann da aber noch lange nicht. "Viele Häuser in Haidhausen waren feucht und dunkel, kaum beheizt", erinnert sie sich. "Ich war ständig krank, durch unsere Fenster kam sogar Schnee durch."
Wie es kam, dass sie so viele Alltagsszenen fotografiert hat, was damals sehr unüblich war? Sabine Jörg weiß es gar nicht mehr, sie sagt, das Viertel habe sie einfach unheimlich fasziniert. "Ich konnte ja nicht ahnen, dass das alles so aufgehübscht wird."
Haidhausen ist wieder lebendiger geworden
Später wird eine Ausstellung aus den Bildern, das Buch "Wiedersehen mit Haidhausen" (Volk Verlag, 14,90 Euro) erscheint. Am Freitagabend wird sie mal wieder zurückkehren in das Viertel, das die heute 74-Jährige 1981 verlassen hat. Sie zeigt Bilder und liest Texte im Münchner Literaturbüro.

Und das durchaus ohne Gram. Denn Jörg trauert der untergegangenen Lebenswelt Haidhausens nicht hinterher. Oder zumindest: nicht mehr so sehr. "Ich habe wieder meinen Frieden gemacht", so sagt sie es selbst. "Lange Zeit fand ich es einfach nur bitter, wie viele Leute hier wegsaniert wurden, plötzlich konnten sich nur noch Rechtsanwälte das Viertel leisten."
Aber alles habe eben seine Zeit. Und inzwischen sei Haidhausen wieder lebendiger geworden. Auch, dass es so viele Kinder gibt, gefällt Jörg. Schwer vorstellbar, dass Münchner Freunde diese Familien heute nicht besuchen mögen, weil die in Haidhausen wohnen. Doch Jörgs Fotos sind auch für die Neu-Haidhauser sehenswert – um zu verstehen, dass hier vor gar nicht so langer Zeit noch ein ganz anderer Wind wehte.
Sabine Jörg liest Texte und zeigt Fotos am Freitag um 19.30 Uhr im Münchner Literaturbüro, Milchstraße 4, Eintritt frei