Haidhausen in den Siebzigern: Als das Alltagsleben noch normal war

In den 70er Jahren war das Viertel richtig verrufen. Sabine Jörg hat es innig geliebt. Ihre Fotos geben eindrücklich Zeugnis vom einfachen Leben in der Zeit.
Felix Müller
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Konditorei, Süßwaren - und was für eine Parkuhr! Blick auf das Café Kriechbaum an der Weißenburger Straße.
Sabine Jörg 7 Konditorei, Süßwaren - und was für eine Parkuhr! Blick auf das Café Kriechbaum an der Weißenburger Straße.
Fröhliche Haidhauser Rentnerinnen auf einer Parkbank an der Postwiese.
Sabine Jörg 7 Fröhliche Haidhauser Rentnerinnen auf einer Parkbank an der Postwiese.
Da kann man auch mal gemütlich Pause in der Sonne machen: Szene vor einem Getränkemarkt an der Walserstraße.
Sabine Jörg 7 Da kann man auch mal gemütlich Pause in der Sonne machen: Szene vor einem Getränkemarkt an der Walserstraße.
Sieht irgendwie nicht gut gelaunt aus, dieses italienische Mädchen an der Preysingstraße.
Sabine Jörg 7 Sieht irgendwie nicht gut gelaunt aus, dieses italienische Mädchen an der Preysingstraße.
Sehr einfache Häuser hat Jörg vor der großen Sanierungswelle hier an der Kreppe eingefangen.
Sabine Jörg 7 Sehr einfache Häuser hat Jörg vor der großen Sanierungswelle hier an der Kreppe eingefangen.
Einer der vielen Stehausschänke: das Rendez-Vous.
Sabine Jörg 7 Einer der vielen Stehausschänke: das Rendez-Vous.
Sabine Jörg mit Buch und Telefonhörer am Pariser Platz.
Sabine Jörg 7 Sabine Jörg mit Buch und Telefonhörer am Pariser Platz.

Haidhausen - Nein, eine Archäologin ist Sabine Jörg nicht. Aber eine untergegangene Welt hat sie eindrucksvoll für die Nachwelt dokumentiert: das Haidhauser Alltagsleben der 70er Jahre. Kaum vorstellbar für uns, die wir heute durch die edel-sanierten Straßen des super-teuren Viertels laufen.

Wie anders doch das Haidhausen war, das Sabine Jörg in den 70ern vorfand. Sie kann erzählen von verrußten Fassaden, Einschusslöchern aus dem Krieg, von ganz einfach-bodenständigem Leben und wilden Typen. Und zu alldem hat sie Fotos parat, die sie in jenen Jahren gemacht hat.

Besondere Erinnerung an Haidhausen der siebziger Jahre

"Ich kam aus Bochum von der Uni", erzählt sie, "aus dem Ruhrgebiet, einem harten Pflaster. In Haidhausen habe ich mich da gleich wohlgefühlt." Klar, es kommt vor, dass ihre neuen Münchner Freunde sie nicht besuchen wollen, weil Haidhausen, da mag man ja nicht hinfahren.

Aber Sabine Jörg gefällt es. "Die Leute waren so direkt, wie ich es sonst aus Süddeutschland nicht kannte", sagt sie. "Und man gehörte schnell dazu – auch wenn man Brötchen statt Semmel gesagt hat."

Fröhliche Haidhauser Rentnerinnen auf einer Parkbank an der Postwiese.
Fröhliche Haidhauser Rentnerinnen auf einer Parkbank an der Postwiese. © Sabine Jörg

Besonders gern erinnert sie sich an den Kronawitter, nicht den damaligen OB, sondern das Geschäft am Weißenburger Platz. "Die hatten Tausende verschiedene Bürsten!" In ihrem Haus in der Metzstraße knarzte die Treppe – und wenn sie im ersten Stock vorbeikam, sei regelmäßig "zufällig" die Tür aufgegangen – weil die Nachbarin überprüfen wollte, ob denn endlich ein Ehering am Finger sei, wie Jörg immer noch überzeugt ist.

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Feuchte und dunkle Häuser in Haidhausen: "Ich war ständig krank"

Verheiratet waren sie und ihr späterer Mann da aber noch lange nicht. "Viele Häuser in Haidhausen waren feucht und dunkel, kaum beheizt", erinnert sie sich. "Ich war ständig krank, durch unsere Fenster kam sogar Schnee durch."

Wie es kam, dass sie so viele Alltagsszenen fotografiert hat, was damals sehr unüblich war? Sabine Jörg weiß es gar nicht mehr, sie sagt, das Viertel habe sie einfach unheimlich fasziniert. "Ich konnte ja nicht ahnen, dass das alles so aufgehübscht wird."

Haidhausen ist wieder lebendiger geworden

Später wird eine Ausstellung aus den Bildern, das Buch "Wiedersehen mit Haidhausen" (Volk Verlag, 14,90 Euro) erscheint. Am Freitagabend wird sie mal wieder zurückkehren in das Viertel, das die heute 74-Jährige 1981 verlassen hat. Sie zeigt Bilder und liest Texte im Münchner Literaturbüro.

Sabine Jörg mit Buch und Telefonhörer am Pariser Platz.
Sabine Jörg mit Buch und Telefonhörer am Pariser Platz. © Sabine Jörg

Und das durchaus ohne Gram. Denn Jörg trauert der untergegangenen Lebenswelt Haidhausens nicht hinterher. Oder zumindest: nicht mehr so sehr. "Ich habe wieder meinen Frieden gemacht", so sagt sie es selbst. "Lange Zeit fand ich es einfach nur bitter, wie viele Leute hier wegsaniert wurden, plötzlich konnten sich nur noch Rechtsanwälte das Viertel leisten."

Aber alles habe eben seine Zeit. Und inzwischen sei Haidhausen wieder lebendiger geworden. Auch, dass es so viele Kinder gibt, gefällt Jörg. Schwer vorstellbar, dass Münchner Freunde diese Familien heute nicht besuchen mögen, weil die in Haidhausen wohnen. Doch Jörgs Fotos sind auch für die Neu-Haidhauser sehenswert – um zu verstehen, dass hier vor gar nicht so langer Zeit noch ein ganz anderer Wind wehte.


Sabine Jörg liest Texte und zeigt Fotos am Freitag um 19.30 Uhr im Münchner Literaturbüro, Milchstraße 4, Eintritt frei

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3 Kommentare
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  • Weigand am 18.11.2022 12:34 Uhr / Bewertung:

    Schöner Beitrag!

  • tutnixzursache am 18.11.2022 11:49 Uhr / Bewertung:

    "Als das Alltagsleben noch normal war" Ist es das jetzt nicht? Und falls nicht: was ist denn jetzt anormal?

  • Klara Fall am 19.11.2022 18:40 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von tutnixzursache

    Jetzt ist es anders normal. Verbonzt. Gentrifiziert. Preußifiziert. Nicht mehr versifft, aber verSUVt.

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