Freiham: Klassische Schlafstadt und Experiment

AZ-Serie "Münchens Neubauviertel": Bis Mitte 2030 entsteht hier das größte Neubaugebiet Europas. Ein Architekt kommentiert die ersten Bauten im Viertel aus der Retorte.
von  Eva von Steinburg
Pioniere in der Pretzfelder Straße: Petra Zegar (26) mit ihrem Kind und ihrer Mutter Ivanka Cerina (53) am Spielplatz.
Pioniere in der Pretzfelder Straße: Petra Zegar (26) mit ihrem Kind und ihrer Mutter Ivanka Cerina (53) am Spielplatz. © Daniel von Loeper

Freiham - Hans-Dietrich Genscher und Mahatma Gandhi werden hier posthum geehrt. Im neuen Stadtteil Freiham sind viele große Straßen und Plätze nach verstorbenen Politikern benannt.

Rund 1.000 Menschen wohnen bereits in Neubauten in Freiham

Doch der Blick in Freiham richtet sich nach vorne. Der Münchner Westen baut gerade die Zukunft: 16 Baukräne kreisen über den Baustellen von Freiham Süd. Vollbeladene Laster fahren über staubigen Asphalt.

Rund 1.000 Pioniere haben die ersten fertigen Wohnungen bezogen, in einem Viertel mit dem Charme einer Bauwüste. Außer dem Grünzug zwischen Pretzfelder und Wiesentfelser Straße, an der Grenze Freiham-Neuaubing, gibt es noch kaum belebte Plätze. Die ersten Geschäfte haben am S-Bahnhof Freiham eröffnet, wo die S8 hält: ein Südtiroler Bauernladen, der Friseur, die Apotheke Freiham und das Café Azzurro.

Architekt Brncic lobt: "Einzelne Gebäude haben eine tolle Qualität"

Äußerst lebendig wuselt es nur am neuen Streetballplatz und im lässigen Skatepark mit 800 Quadratmetern Fläche: Jugendliche verausgaben sich hier mit Skateboard, Scootern und BMX-Rädern. Der Bildungscampus gleich daneben, mit vier großen Schulbauten, ist ja nur zur Unterrichtszeit belebt.

In Freiham sollen 11.000 Wohnungen für über 25.000 Einwohner gebaut werden. Damit ist es das größte Neubaugebiet Europas. Der erste von drei Bauabschnitten wird gerade realisiert: Zwischen 60 und 70 Prozent ist geförderter und preisgedämpfter Wohnungsbau. Die meisten Häuser bauen die städtischen Wohnungsbaugesellschaften GWG und Gewofag. Der Freistaat Bayern errichtet im Quartier Werkswohnungen.

Architekt Igor Brncic (47) vor neuen Schulen am Bildungscampus.
Architekt Igor Brncic (47) vor neuen Schulen am Bildungscampus. © Daniel von Loeper

Auch Genossenschaften, wie die Kooperative Großstadt, kommen am Stadtrand zum Zug. Der Münchner Architekt Igor Brncic hat die AZ auf einen Spaziergang durch das entstehende Viertel begleitet. "Einzelne Gebäude haben eine tolle Qualität. Da sehe ich Anspruch dahinter. Sie sind eingebettet in eine künstliche Großstruktur aus der Retorte, die nicht gewachsen ist", kommentiert der Architekt, was er aktuell in Freiham sieht.

Erste Station: Der Bildungscampus

Ver neugebauten Schulen: Grundschule, Förderschule, Realschule und Gymnasium. Die weißen Gebäude mit den umlaufenden Balkonen ähneln sich ähneln sich stark, gefallen dem Fachmann aber gut. "Die Bauten sollen leicht wirken. Das ist eine sehr ansprechende, zeitgemäße und offene Architektur. Sie steht für unsere Gesellschaft", beschreibt der Architekt seinen Eindruck.

Das Material Beton sei "nachhaltig", lobt er, jedoch auch "ein bisschen kühl": Die hellen Cremefarben für den Bildungscampus seien klare Absicht: "Diese Architektur will nicht polarisieren. Architekten kämpfen oft um den Mut zur Farbe, die Bauherren scheuen sich aber anzuecken. Hätte jede Schule hier einen andersfarbigen Eingang, wäre Kritik eher möglich", erläutert Igor Brncic. Sein Fazit: "Wichtig ist, dass die Kinder sich wohlfühlen."

Die modernen Spielplätze vor den Schulen mit Kletterlandschaften, Schaukeln und Kletterwand sind jedenfalls eine echte Attraktion. Igor Brncic äußert sich zufrieden: "Dieser Campus bildet eine neutrale Bühne für Kinder, die den Ort lebendig gestalten."

Zweite Station: Der Sportpark

Ein Gebäude mit Schwimmhalle und zwei Dreifach-Turnhallen plus Tribünen an der Hans-Dietrich-Genscher-Straße. "Ein großer Wurf", findet der Architekt. Er hebt die Großstruktur als "ungewöhnlich" hervor und erklärt ein modernes Detail: Die Fassade des Sportparks ist mit "Bricks" verkleidet, mit hell gebranntem Ziegelstein.

"Das ist gerade en vogue", so Igor Brncic. Die Vorteile einer Ziegelfront: "Sie gibt Struktur, bleibt über Jahrzehnte erhalten und bekommt eine schöne Patina." Bautechnisch sei das eine "teure Fassade, wodurch das Ensemble mit dem Sportbereich sehr städtisch wirkt", befindet Igor Brncic.

Dritte Station: Roman-Herzog-Straße

Die Wohnhäuser in einem auffälligen Terrakottarot sind im Rohbau fertig. Der Freistaat Bayern, Stadibau, zieht hier eine Wohnanlage mit 213 Wohnungen für Staatsbedienstete hoch. Dazu kommen zwei Läden und eine Tiefgarage. Die Fassade gefällt Igor Brncic: "Ich freue mich darüber. Sie wirkt wohltuend und hat eine gewisse Qualität."

Der dunkelrot abgesetzte Sockel fällt ihm auf, jedoch auch die eher kleinen Fenster: "Das ist typischer Mietwohnungsbau unter einem engen Kostenkorsett. Man könnte annehmen, die Fenster sind eher klein, schlicht weil sie teuer sind", so die Vermutung.

Das Retortenviertel entsteht als klassische Schlafstadt

München braucht Wohnraum. Die Stadt hat den Druck, die Menschen in Wohnungen unterzubringen. Weil die Innenstadt nicht nachverdichtet werden soll, entsteht das Retortenviertel Freiham als klassische Schlafstadt: ohne Kino, kaum Gastro. "So wie am Hirschgarten und in Neuperlach", weiß der Architekt. Das Freihamer Gewerbegebiet jedoch, 2007 mit Baumarkt und später Möbel Höffner eröffnet, gilt jedenfalls als ansprechend und stark frequentiert.

Vierte Station: Pretzfelder Straße gegenüber dem Aubinger Friedhof

Die Neubauwohnungen sind frisch bezogen. Familien wohnen in der Anlage um einen Spielplatz herum. "Diese Anlage hat einen angenehmen Maßstab. Die Bewohner fühlen sich hier wahrscheinlich wohl", bemerkt Architekt Brncic. Architektonische Besonderheit: Die Fenster der Wohnungen sind bodentief. Die Balkone nicht rechtwinklig, "nicht orthogonal", wie es der Fachmann ausdrückt. "Diese Häuser sind ein schönes Beispiel dafür, wie es funktionieren kann", sagt Igor Brncic.

Die Farbe der Fassade kritisiert er jedoch als weniger gelungen. "Das helle gesetzte Graubraun passt zwar in unsere Zeit, doch es wirkt unlebendig." Der Fachmann erläutert: Die Farbe sei quasi "der Golf der Architektur, um einem breiten Publikum eine demokratische Lösung anzubieten". Den Designanspruch anderer Länder, auch beim sozialen Wohnungsbau, kennt er nicht nur von Reisen nach Dänemark und Norwegen: "In Skandinavien wäre so ein Haus nicht mausgrau. Dort sind Bauten bunter und lebendiger, die Plätze gewagter."

Igor Brncics Fazit: "Es ist eine hohe Kunst einen Wohlfühl-Ort zu schaffen, der nicht natürlich gewachsen ist". Denn Menschen hätten einen natürlichen Bezug zur Proportion. Der Münchner Architekt sagt: "Der Mensch braucht eine Grundlage. Dann machen die Menschen die Orte! Freiham ist ein Experiment, an dem die Zukunft entsteht."


Stadt in der Stadt: "Freiham braucht Komfort"

"So viel steht noch nicht. Es gibt noch viel zu tun", sagt Sebastian Kriesel (CSU) mit Blick auf das neue Riesen-Quartier Freiham. Die entstehende Stadt in der Stadt gehört zu seinem Bezirk Aubing-Lochhausen-Langwied. Denn: Freiham fällt unter die historische Gemarkung Aubing.

"Die Bürger müssen keine Angst vor einem großen neuen Wohngebiet haben. Veränderung ist oft etwas, was man nicht möchte, aber Freiham wird viele Vorteile bringen wie Freizeitanlagen, Einkaufsmöglichkeiten, eine gute Ärzteversorgung und Kitas", so der Lokalpolitiker.

"Neben guter Architektur braucht es Komfort, wie Fußläufigkeit und ein soziales Miteinander. Es braucht einen ganzen Blumenstrauß, damit die Menschen sich hier zu Hause fühlen und ein Gefühl von Heimat entsteht, was ich sehr hoffe", sagt der BA-Chef.

BA-Chef: "Wir hätten mehr Grün gebraucht"

Für gelungen hält er den langen schmalen Grünzug an der Pretzfelder Straße, der Neuaubing und Freiham verbindet. Ein Landschaftspark wird zur A 99 hin errichtet, aber erst 2025.

Der BA-Chef kritisiert, dass Freiham zu dicht bebaut wird: "Man hätte mehr Raum zulassen sollen." Der Stadtplanung wirft er konzeptionelle Fehler vor: "Wir hätten mehr Grün gebraucht. Die Verkehrserschließung über S8 und S4 ist unzureichend."

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